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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Der Begleiter tröstete, daß es nun nicht lange mehr währen könne. Und wirklich war man, da die Ungeduld des kleinen Landgrafensohnes die ganze Gesellschaft noch einmal in einen kurzen Trab gesetzt hatte, in weniger als einer Viertelstunde bei den ersten Häusern der vor diesem Thore gelegenen Weberniederlassung angekommen. Hier aber gab es mit einem Male eine Stockung, einen Aufenthalt, dessen Grund wir schon kennen, der aber dem jungen Fürsten anfangs gar nicht einleuchten wollte. Doch fand er sich hinein, da er trotz seiner acht Jahre sich schon hatte gewöhnen müssen, dem Zwange des hohen Standes mehr als ein Opfer zu bringen. Die Kavalkade hielt mitten auf der Landstraße, die Herren tauschten, ihre Pferde neben einander bringend, gemächlich Red’ und Antwort aus, der Knabe sah sich aufmerksam und grüßend um und war natürlich indessen selber das Ziel aller Blicke, denn an Fenstern und Thüren und zur Seite auf der Gasse drängten sich die Anwohner, knixtcn die Weiber und Männer barhäuptig, die Kopfbedeckung in den Händen.

Hinter ihrem Fenster stand auch Hilde, kaum zehn Schritte von dem kleinen Fürstensohne entfernt, denn es traf sich, daß der Zug gerade dem Hause des Meisters Vanderport gegenüber zu halten gekommen war. Sie stand und war ganz verloren in die Betrachtung des Knaben, bei dessen Anblick sich etwas wie Wonne in ihr Herz einschlich.

Und wirklich war der Knabe, wie er da in sicherer Haltung auf seinem Pferde hielt, in dessen weich lockiger Mähne seine kleine kräftige Faust mit dem schlaff gehaltenen Zügel ruhte, ein Gegenstand, bei dem Einem wohl das Herz aufgehen konnte. Er war groß und wohl entwickelt für seine Jahre, doch mehr breit als schlank, und mit dem hellen schönen Angesicht, welches doch deutlich die kräftigen Züge seiner Rasse trug, und dem kühnen Blick sah er recht wie ein geborener Fürst, wie der echte Erbe eines uralten Geschlechtes aus.

Wohl möglich, daß das selber edel geartete Mädchen in diesen Augenblicken mit geheimer Lust einen Hauch der Luft von jenen freien Lebenshöhen einsog, die den erlauchten Knaben umgab. Aber auch schon die in ihr lebende Kinderliebe fesselte sie an seinen Anblick, und schon das Kind in ihm bewunderte sie von Minute zu Minute mehr, da er mit jener wahrhaft fürstlichen Abhärtung gegen Ungeduld und Langweile die Verzögerung und das Warten auf der staubigen heißen Landstraße so ruhig aushielt.

Die Sonnengluth war es, von der die Wartenden am meisten zu leiden hatten. Deckung dagegen war keine zu finden, der Schatten um diese Tageszeit an einer der Häuserreihen kaum handbreit. Das Gesicht des Knaben glühte; einmal schob er das Sammetbarett, an welchem nur eine kleine Juwelenagraffe vorn den Stand des Trägers verrieth, weit zurück, um sich das Blondhaar aus der erhitzten Stirn zu schieben. Dabei wanderten seine Augen umher und fielen auf einen der Obstbäume in des Meister Lukas Garten … „Ach seht, Vetter Berlepsch, die schönen Aepfel dort!“ rief er mit der Lust eines echten Jungen, und man konnte fast sehen, wie ihm darnach das Wasser im Munde zusammenlief.

Hilde hatte Ausruf und Geberde wahrgenommen und war im Nu vom Fenster fort. Daran hätte sie längst denken sollen!

Der geringste Wanderer hätte kaum so lange unerquickt an ihrer Thür gesessen! Sie eilte geschäftig im Hause umher, und es dauerte nicht lange, so trat sie über die Schwelle desselben, in der Hand eine Platte tragend, auf der ein geschliffenes Kelchglas voll Wein und eine Schale mit rothwangigen Aepfeln stand.

Scheu oder Verlegenheit zu empfinden hatte Hilde noch gar keine Zeit gehabt, da sie nur daran dachte, wie sie mit ihrer Gabe noch rechtzeitig kommen wolle, um den Kleinen zu erquicken. Ehe sie sich’s versah, stand sie an seinem Bügel und sagte, wie es ihr gerade in den Mund kam: „Wollet uns die Ehre anthun, kleiner gnädiger Herr, und eine Erfrischung annehmen! Die Aepfel sind gut und werden Euch gewiß schmecken.“

„Das glaube ich auch,“ sagte der kleine Fürst überrascht und fröhlich. „Ich greife zu, und Euch, liebe Jungfer, meinen schönsten Dank dafür. Was meint Ihr, Herr Vetter?“

Er drehte sich zu seinem Gouverneur um, und nun fiel es der Darbringerin erst ein, daß der künftige Landesherr zur Zeit vielleicht noch den Willen eines Andern befragen müßte, dem die Sorge um ihn anvertraut sei. Sie wandte sich mit einem gleichsam um Entschuldigung bittenden Blick an den bärtigen Herrn von Berlepsch, der etwas steif, aber doch nicht gerade unfreundlich drein gesehen hatte. „Die Aepfel sind ganz reif,“ sagte sie.

Nun lächelte der ritterliche Herr, und auch die übrigen Begleiter des Prinzen schienen die Sache nicht übel zu finden, wie man aus den neugierig und belustigt zuschauenden Mienen schließen konnte. „Ich bitte Euch, kostet auch den Wein,“ bat Hilde treuherzig aufschauend. Die Augen des Knaben lachten sie an; er ergriff den Becher, hob ihn und indem er das Barett abnahm, neigte er mit fürstlichem Anstand den Blondkopf gegen das erröthende Mädchen und brachte ihr dankend den ersten Trunk zu.

Den Becher, in dem nur ein kleiner Rest geblieben war, reichte er ihr wieder, die Schale mit Aepfeln aber hob er auf und sich im Sattel wendend reichte er sie eigenhändig den Herren vom Gefolge hin. „Greift zu, Junker Heinz,“ mahnte er den nächsten; „die Jungfer giebt es gerne, und wer weiß, wie lange wir noch auf das Mittagsbrot warten müssen.“ Nach einer solchen Aufforderung konnten die Herren die Aepfel nicht verschmähen, wenn sie auch vielleicht lieber den Becher die Runde machen gesehen hätten … Sie versorgten sich alle und die Jüngsten hinten folgten dem Beispiele des kleinen Landgrafen, der längst munter einhieb. Hilde lachte vor Vergnügen, als die Schale leer wieder zu ihr zurück kam.

Indessen war aber auch Botschaft aus der Stadt gekommen, daß dem hochfürstlichen gnädigen Einzuge nun nichts mehr im Wege stehe. Die Herren setzten sich in den Sätteln zurecht, rückten an Barett und Wehrgehäng und richteten die Augen auf ihren jugendlichen Herrn, des Aufbruchs gewärtig. Der nickte indessen Hilden freundlich zu: „seht, den stecke ich zu mir,“ indem er einen wunderschönen rothbackigen Apfel ins Gewand gleiten ließ, dann grüßte er sie noch einmal, nicht anders, als ob sie eine Edelfrau gewesen wäre, und einer nach dem andern neigten sich auch die Herren des Gefolges vor dem Mädchen, während die Reiterschaar sich nun in Trab setzte. Hufe und Waffen klirrten, und nach wenigen Minuten schon waren alle hinter einer mächtigen Staubwolke, die ihnen folgte, alsbald aber auch innerhalb des dunkeln Stadtthores vollends verschwunden. –

(Fortsetzung folgt.)




Das russisch-afghanische Grenzgebiet.

In „Tausend und eine Nacht“ erzählt Zobeïde, daß sie, von Bassora absegelnd, nach zwanzig Tagen in dem Hafen einer großen Stadt Indiens gelandet sei und dort den König, die Königin und alles Volk in Stein verwandelt gefunden habe. Das orientalische Märchen ist keineswegs ganz erdichtet, es liegt ihm etwas Wahres zu Grunde, wie den Sagen Norddeutschlands von versunkenen Dörfern und Städten, über deren ehemaligem Standorte die klaren Fluthen eines Binnensees geheimnißvoll zum blauen Himmelszelt emporschauen. Von „versteinerten Städten“ berichten Märchen und Volkssagen, und der Forscher findet sie in weit entlegenen Ländern und berichtigt die Darstellung der unbekannten Dichter, indem er jene versteinerten Orte als Ruinenhaufen alter Kultursitze erkennt und den König und die Königin, sowie das in Stein verwandelte Volk als Bildhauerwerke alter Kunst zu würdigen weiß. Mittelasien ist namentlich reich an solchen Ruinen, die theils Opfer von gewaltigen Erdbeben bilden, theils den Weg sengender und plündernder Horden bezeichnen, die seit Jahrhunderten das Land so oft durchkreuzt und durchquert hatten.

Ein altes orientalisches Sprichwort besagte, daß von Taschkent nach Samarkand eine Katze gelangen konnte, ohne den Erdboden zu berühren, indem sie von Dach zu Dach hinübersprang. Ein späteres Sprichwort lautet, daß dort, wohin der Türke seinen Fuß gesetzt, kein Gras mehr wachse, und das Einst und Jetzt der turkestanischen Geschichte zwingt uns, die beiden geflügelten Worte als bittere Wahrheit zu erkennen. Orte, deren Reichthum in früheren Jahrhunderten weit und breit gerühmt wurde, findet hier der Reisende wieder – als elende Dörfer, mit mächtigen Schutthaufen umgürtet: dort, wo er Macht und Glanz gesucht hatte, begegnet er Spuren des Todes und Verfalles.

Sonderbar in der That sind jene Länder, die heute zum Zankapfel der englischen und russischen Macht geworden und durch die eine wichtige Grenze gezogen werden soll – die Grenze zwischen den Rivalen um die Herrschaft Asiens. Nichts kann jene öden, aber vom Glanz der Sage verklärten Stätten besser charakterisiren als ein Blick auf Merw, welches jüngst der russischen Herrschaft gehuldigt hat, und noch heute hier und dort den stolzen Titel „Königin der Welt“ führt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_302.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2020)