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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Und sie hatte sich an ihn geschmiegt, zitternd vor Erregung. „Mama meint es nicht so böse, Franz,“ sagte ihr Mund, aber das Herz wußte es anders. Und da hatte er sie heftig an sich gepreßt: „Wenn, ich Dich nicht so lieb hätte, Mädchen!“

„Aber es muß ja Frühling werden, Franz!“

Und heute war das Gedicht gekommen mit einem Veilchenstrauß.

Sie schrak empor, sie hörte Jenny’s Stimme, und gleich darauf trat die Schwester ein, aufgeregt und ärgerlich.

„Ich muß mich bei Dir erholen, Trudchen,“ sagte sie; „Linden ist nicht hier? Gott sei Dank! Unten kann ich nicht aushalten, der Kleine ist so unruhig und schreit und weint; der Doktor sagte, er soll ins Bett. Ich habe ihn nun hineinstecken lassen. Lieber Gott, man kommt aus der Angst und Unruhe gar nicht heraus!“

Trudchen horchte erschreckt auf. Nun, wenigstens ist er in guter Pflege bei Karoline, dachte sie.

„Werdet Ihr denn den Maskenball mitmachen, Du und Linden?“ fragte die junge Frau.

„Nein!“ sagte das Mädchen und packte ihre Briefe fort.

„Warum denn nicht?“

„Was hätten wir davon? Ich tanze nicht gern; Du weißt es ja, Jenny.“

„War Onkel Heinrich hier?“

„Ja, Jenny. Ist es denn ängstlich mit dem Kleinen?“

„I bewahre! Ein bischen Fieber; wir wollen heute Abend noch zu Dressels; Arthur hat Kostümbilder für unsere Quadrille aus Berlin kommen lassen. Aber das interessirt Dich doch nicht, Du wirst Dich wohl später ganz in Dein Niendorf vergraben. Neulich sagte noch der Landrath zu Arthur: ‚Ihre Schwägerin kommt auch nicht an den richtigen Platz; sie hätte einen Mann heirathen sollen in einer Stellung, wo sie repräsentiren muß.‘ Du wärst eine Zierde für jeden Salon; nun gehst Du in die Niendorfer Kuhställe.“

„Und wie ich mich darauf freue!“ sagte Trudchen, und ihre Augen leuchteten.

„Frau Fredrich!“ rief jetzt ängstlich das hübsche Stubenmädchen, „kommen Sie doch nur herunter, der Kleine wird so unruhig und heiß.“

Jenny nickte, besah sich noch in aller Eile eine angefangene Stickerei und ging aus dem Zimmer. Als Trudchen nach einer Weile folgte, erhielt sie den Bescheid, es sei nicht schlimm mit dem Kleinen, und Herr und Frau Fredrich machten schon Toilette für den Abend. Und so stieg sie wieder hinauf in ihr einsames Stübchen.

(Fortsetzung folgt.)

Entsagung.

Treibt sich das Volk im Abendscheine
Mit seinen Kindern schäkernd um,
Stehst du beiseit, ernst und alleine.
Und gehst von dannen trüb und stumm.
Dir ist im Drange deines Strebens
Das rasche Glück vorbeigerauscht,
Du hast die süße Frucht des Lebens
Um bittre Weisheit ausgetauscht.

Von der Gemeinschaft losgerissen,
Hast du versenkt den alten Hort
Und warfst, im Durst nach hohem Wissen,
Längst deinen Glauben über Bord.
Des Wunders fromme Märchen scheuchte
Von hinnen die Gedankenschlacht;
So ziehst du, deine eigne Leuchte,
Nun einsam durch die große Nacht.

Dein Menschenlos, es heißt Verzichten;
Was soll dir auch die ird’sche Zier?
Du darfst dir deinen Himmel dichten,
Du trägst das Weltgesetz in dir.
Nach dem Unendlichen zu ringen,
Verfolge die erwählte Bahn –
Du spürst, du rührest mit den Schwingen
Den ew’gen Lauf der Sterne an.
 Ludwig Pfau.



Wahnsinn und Verbrechen.

Von Fr. Helbig.
Das Räthsel der Schöpfung. – Die alte Strafpraxis. – Das Humanitätsprincip. – Verbrechen ohne Motiv. – Die Mordsucht. – Der Stehltrieb (Kleptomanie). – Der Brandstiftungstrieb (Pyromanie). – Der Mord aus Vaterliebe. – Die Schlaftrunkenheit und das Nachtwandeln. – Das Heimweh. – Der religiöse Wahnsinn. – Der Aberglaube.

Der Mensch ist das größte Räthsel der Schöpfung. Gleichwie sein Eintritt ins Dasein, so bieten die Ausflüsse und Aeußerungen seiner Lebensthätigkeit dem Forscher zahlreiche ungelöste Probleme dar. Mißachtet er doch vielfach selbst die Naturgesetze, durch welche er lebt und erhalten wird, und macht das Dichterwort, daß er die ihm verliehene Vernunft gebrauche, um thierischer als jedes Thier zu sein, oft nur zu wahr. Das Verbrechen ist dem Menschen angeboren; es ist darum so alt wie die Menschheit selbst. Aber dem Verbrechen ist auch früh schon die Strafe gefolgt. Sie war ebenso sehr eine äußere Nothwehr der bedrohten Gesellschaft wie eine Forderung des inneren Gerechtigkeitsgefühls.

Mit der staatlichen Ordnung entstanden auch die Strafgesetze. Sie trugen ursprünglich einen ganz äußerlichen Charakter, indem sie sich streng an den Grundsatz hielten: Aug’ um Auge, Zahn um Zahn. Der Richter von ehedem sah dem Thäter nicht ins Herz hinein; er fragte nicht nach den bewegenden Kräften seines Handelns. Er bestrafte nicht den Thäter, sondern die That. War ein Mensch von einem andern getödtet worden, so war es dabei gleichgültig, ob der Tod blos das Produkt eines unglücklichen Zufalls, verminderter Sorgfalt, momentanen Affekts oder kalter Ueberlegung war. Am wenigsten aber frug man darnach, ob der Verbrecher, als er die That beging, sich in einem solchen Zustande geistiger Unfreiheit befand, daß ihm die That überhaupt nicht zugerechnet werden konnte. Wo der Wahnsinn selbst ganz unverkennbar hervortrat, da ward er für den Richter nicht ein Grund, den Verbrecher frei zu sprechen, sondern nur noch ein weit größerer, ihn zu verurtheilen.

Nach mittelalterlicher Anschauung war ein solcher Wahnsinniger vom Teufel besessen, und da in dessen Person sich das eigentlich Böse verkörperte, so erschien ein solcher „Besessener“ noch weit strafwürdiger, und nur allzuoft wurden Irrsinnige als Gotteslästerer oder Zauberer dem Scheiterhaufen überwiesen.

So enthält die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl’s V., die bis in die neueste Zeit hinein noch in einzelnen deutschen Territorien Geltung hatte, keine Bestimmung darüber, in wie weit Wahnsinn die Strafbarkeit ausschließt. Sie beschränkt sich blos darauf, dem Richter anheimzustellen, „bei solchen Entleibungen, die ungefährlich aus Geilheit, das heißt Muthwillen, oder Unvorsichtigkeit, doch wider des Thäters Willen geschehen, mehr Barmherzigkeit zu üben, als wie bei dem, was arglistig und mit Willen geschieht“.

Es mußte erst die große geistige Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, erst der Sieg des Humanitätsprincips dazu kommen, um auch auf diesem Gebiete die nothwendige Reformation herbeizuführen und zu bewirken, daß das Zuchthaus erhielt, was dem Zuchthause, und das Irrenhaus, was dem Irrenhause gebührte. So enthielten schon alle neueren Strafgesetzbücher entsprechende Bestimmungen, aber dieselben trugen noch den verschiedenartigsten Charakter. Bald überließen sie es ganz dem Richter, ob er in dem einzelnen Falle Zurechnungsfähigkeit annehmen wollte, bald zählten sie einzelne Formen des Wahnsinns auf oder beschränkten sich blos auf die Angaben einzelner Kennzeichen vorhandener Seelenstörung. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch faßte die ganze Materie in folgende Bestimmung: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der That sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

So einfach und klar diese von echter Humanität durchdrungene Bestimmung erscheint, so schwierig gestaltet sich ihre Anwendung in der Praxis bei der Beurtheilung des einzelnen Falles. Die List und Ueberlegung, mit welcher die Irren nicht selten ihre Verbrechen planen und ausführen, trüben das Urtheil des Laien, der es ungerecht findet, daß der Geisteskranke, der noch die Folgen seiner That zu übersehen vermag, straflos bleiben solle.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_390.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)