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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Folge dessen wird Stockhausen nunmehr vor das Schwurgericht gestellt, verurtheilt und dem Zuchthause überwiesen. Hier tritt nach kurzem Aufenthalte in jetzt nicht mehr angezweifelter Weise der Irrsinn zu Tage. Casper erzählt die Geschichte eines Verbrechers, der elf Jahre lang zwischen Gefängniß und Irrenhaus hin- und hergeschleppt wurde.

Die Schwierigkeit der Beurtheilung geisteskranker Zustände wird für den Richter ferner noch dadurch erhöht, daß, wie wir schon oben andeuteten, bei periodischen Geistesstörungen oft sogenannte lichte Zwischenräume (lucida intervalla) vorkommen, in denen der Kranke scheinbar wieder ganz im freien Gebrauche seiner Seelenkraft sich befindet; aber diese Freiheit ist doch immer nur eine scheinbare. Bezeichnend für diese Art des Wahnsinns ist der nachfolgende von den Amerikanern Wharton und Stillé mitgetheilte Fall:

„Ein gewisser John Billman, der wegen Pferdediebstahls im Eastern Penitentiary von Pennsylvania saß, ermordete seinen Wächter mit großer Brutalität, benahm sich aber dabei mit solcher Schlauheit, daß er dem Verdachte des beabsichtigten Mords entging und beinahe unvermerkt die Flucht ausführte. An der Außenseite des schmalen Fensters, das an den Zellenthüren dazu dient, von außen in die Zelle zu sehen, hatte er eine Schlinge angebracht, und er bestimmte nun seinen Wächter, nach einem draußen auf dem Korridor gerade am Fuße der Zellenthür befindlichen Gegenstande hinzusehen, wobei der Kopf durch die Schlinge gesteckt werden mußte; er selbst zog in diesem Augenblicke die Schlinge an, und es fehlte nicht viel, so wäre der Mann erwürgt worden. Trotz dieses vorausgegangenen Versuchs ließ sich der nämliche Wächter ein paar Tage später wiederum allein in die Zelle locken, weil Billman krank sein wollte, und dieser tödtete ihn durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Stück von einem Waschbrete. Billman entkleidete den Gemordeten, zog dessen Kleider an, legte den Todten in einer Stellung auf das Bett, daß es aussehen sollte, als läge er selbst darauf, schritt in der so erlangten Kleidung ganz unbefangen über den Korridor, richtete leichthin eine Frage an den Pförtner und schlenderte sorglos in die Straße hinein, in welche die Pforte sich öffnete. Er wurde aber alsbald wieder eingebracht. Seine Irrsinnigkeit jedoch konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen; auf Grund einer genauen ärztlichen Untersuchung überzeugte sich die Untersuchungsbehörde von Billman’s Unzurechnungsfähigkeit, und bei der gerichtlichen Verhandlung wurde Freisprechung wegen Irrsinnigkeit beantragt. Billman wurde in der pennsylvanischen Anstalt in Gewahrsam gebracht. Einige Zeit darauf rückte er in einer sprachseligen Stimmung mit der Mittheilung heraus, daß er vor einer Reihe von Jahren seinen Vater ums Leben gebracht habe, und erzählt bis ins kleinste Detail mit einigen Zusätzen ausgeschmückt die nähern Umstände. Es wurde der Sache nachgeforscht, und die Wahrheit der Erzählung stellte sich dadurch heraus. Man hatte den Vater im Bette erwürgt gefunden, und der Sohn war als des Verbrechens verdächtig eingezogen worden; er war aber mit solcher Verschlagenheit bei dem Morde zu Werke gegangen, daß er freigesprochen werden mußte. Er ermöglichte nämlich durch einen raschen Ritt um Mitternacht den Beweis des Alibi und wollte auch in einem Zimmer geschlafen haben, wo hinein er durchs Fenster geklettert war. Billman fühlte sich also nicht blos schuldig, er erwog auch scharfsinnig die Folgen der ihn bloßstellenden Verhältnisse, und klar genug giebt sich die langgehegte Absicht und der fein angelegte Plan zu erkennen. Dennoch war er – wie in nicht zu bezweifelnder Weise festgestellt wurde – wahnsinnig.“

Schließlich darf man ja wohl behaupten, daß sich Niemand beständig auf ganz normaler geistiger Basis bewegt. „Eine absurde Idee,“ bemerkt in dieser Beziehung Casper, „kommt Jeden einmal im Leben an. Wenn ein solcher Gedanke vergessen wird, sich zurückdrängen läßt und an der Macht entgegengesetzter Vorstellungsmassen zerschellt, ist er nicht krankhaft. Erst wenn er nicht mehr bezwungen werden kann, wenn er haftet und Wurzeln schlägt, dem Individuum sich immer und überall aufdrängt, nicht korrigirt werden kann, nennen wir ihn krankhaft.“ Wie oft trifft in Folge einer äußerlich angeregten Ideenverbindung, eines lebhaften Phantasiespiels ein verbrecherischer Gedanke blitzartig unser Gehirn! Wir stehen mit Andern auf einem hohen Thurme oder Bergvorsprunge. Wie wäre es, fliegt es da durch unsere Gedankenreihe, wenn du dich oder den, der neben dir steht, hinabstürztest! Wir erschrecken vor solchen Gedanken und wendest uns im nächsten Augenblicke mit Abscheu von denselben ab, aber sie waren doch da. Lichtenberg, dieser kühle verständige Kopf, schreibt einmal von sich: „Ich fand oft ein Vergnügen daran, Mittel auszudenken, wie ich diesen oder jenen Menschen ums Leben brächte oder Feuer anlegte, obgleich ich nie den Entschluß faßte, so etwas zu thun.“

Man darf sich nicht verhehlen, daß derartige Erwägungen, in ihre äußersten Konsequenzen verfolgt, schließlich zu durchaus unannehmbaren Resultaten führen können, zu Annahmen, wie die des französischen Arztes Piquard: es sei jede verbrecherische Handlung der Ausfluß momentanen Wahnsinns – eine Ansicht, unter deren Konsequenzen sich alle unsere Zuchthäuser in Irrenhäuser zu verwandeln haben würden.

In den neuesten Errungenschaften der medicinischen Wissenschaft auf dem Gebiete der Krankheiten der Seele haben wir jedoch die sichere Gewähr, daß derartige Uebertreibungen vor dem richterlichen Stuhle nicht geduldet werden, und daß der Schutz des humanen Gesetzes nur denjenigen Beklagenswerthen zu Gute kommt, die ihn thatsächlich verdienen.


Romeo und Julia in der Garnison.

Aus den Memoiren eines Lieutenants.
Von Karl Hecker.
I.
„Komm mit und wir wollen’s kurz machen.“
      (Romeo und Julia II. Akt. 6. Sc.)


Nördlich von Verona irgendwo in deutschen Landen liegt die Stadt X.; wenn auch keine Festung ersten Ranges, ist es doch ein ansehnlicher Waffenplatz. Alles, womit man in Kriegszeiten den Feind schreckt, als da sind: Generale, Stabs-, Subalternofficiere und Gemeine, Kanonen, Gewehre und anderes Rüstzeug, ist in Massen dort angehäuft. Zur Zeit, als ich mich noch selbst zu jenen Schrecknissen zählte, war die Garnison noch mehrere tausend Mann stark, und daneben fristete noch ein Häuflein Beamte und Bürger sein wenig bemerktes Dasein. Die Wohnungsgelegenheiten ließen damals Manches zu wünschen; weitaus am besten waren die Kanonen und Gewehre daran, welche ein großes massives Zeughaus mit im Renaissancestil gehaltener Façade bewohnten. Sonst behalf man sich so gut es eben ging, denn man war damals noch nicht so anspruchsvoll wie heute. Ueberdies war die Stadt auf allen Seiten von prächtigen Lindenalleen umgeben, was den Aufenthalt im Freien [in] der guten Jahreszeit sehr angenehm machte.

Leider muß [ich] hier meine Schilderung abbrechen und auf das lokale Kol[orit,] dem manche neuere Romane gerade ihre Berühmtheit verdanken, Verzicht leisten. Eines Dichterdenkmals darf ich jedoch nicht vergessen, denn ich habe den Sänger des Tell – er hat bessere – oft im Stillen darum beneidet. Ja, sollte es mir vom Schicksal bestimmt sein, daß ich mich je wieder dauernd in X. aufhalte, so wär’ mir’s gleichfalls am liebsten, wenn dies in Erz oder in karrarischem Marmor geschähe.

Ein Dragoner- und ein Ulanenregiment waren die vornehmsten Truppentheile der Garnison; sie hatten beide fürstliche Chefs und zählten sich daher so halb und halb zur Garde; Gut und Blut des Landes waren ist beiden gleichmäßig vertreten. Gerade diese beiden Regimenter trennte jedoch ein unheilbarer, über ein Jahrhundert alter, sozusagen historischer Zwiespalt. Sie hatten einmal, ich weiß nicht mehr in welcher Schlacht Friedrich’s des Großen, vereinigt eine kühne Attake auf den Feind geritten, welche dieser mit empfindlichen Verlusten zurückwies. Wer die Schuld daran trug, blieb unaufgeklärt, doch wurde sie von jedem der beiden bis dahin stets siegreichen Regimenter dem andern zugeschoben, die Quelle jenes traditionellen Hasses, der sich seitdem von Geschlecht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_407.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)