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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Plaudereien über Romandichtung.

Von Rudolf von Gottschall.
2.0 Die Lebenswirklichkeit im Roman.

Verschieden nach den Gattungen der Poesie ist die Spiegelung des äußern Lebens. Der lyrische Dichter schafft aus seinem Gemüthe heraus; die äußern Bilder werfen ihren Widerschein in dasselbe wie in einen tiefen See; aber die Wunder der Tiefe sind bedeutsamer als diese Spiegelbilder. Der Dramatiker hat zum eigentlichen Gegenstand den menschlichen Willen, der sich in Thaten umsetzt, den Affekt und die Leidenschaft des Handelnden, die Empfindung des Leidenden, über den ein selbstgeschaffenes oder von andern verhängtes Schicksal hereinbricht; die äußere Welt hat für ihn nur eine dekorative Bedeutung. Der epische Dichter erst gönnt den Dingen außer uns ihr volles Recht, und wenn im Epos selbst die Vornehmheit des dichterischen Stils der ins Breite gehenden Beschreibung noch eine Beschränkung auferlegt, so fällt auch das beim Roman fort, dem sogenannten Epos der Gegenwart; hier in der bequemen und gefügigen Prosa kann alles geschildert werden, was zwischen Himmel und Erde ist: der Roman hat a dieselbe Ausdrucksform wie das Lehrbuch und der Katalog; in seine Prosa läßt sich alles aufnehmen, die Doktrin und die Debatte, die eingehendste Specialbeschreibung der äußern Dinge bis in das Detail, das die Naturforschung und die Technik mit ihren Kunstausdrücken ihren Jüngern zu erschließen sucht. Der Roman ist wie das hundertthorige Theben, und durch alle seine Thore kann die schrankenlose Lebenswirklichkeit einziehen mit Sack und Pack, wenn keine ästhetische Zollrevision stattfindet.

Gewiß soll der Roman ein Kulturgemälde der dargestellten Vergangenheit oder Gegenwart liefern; er kann dabei ins Breite gehen, eine Menge bezeichnender Bilder in sich aufnehmen; schon der alte Homer hat uns den Schild des Achilles eingehend beschrieben; aber es kam ihm dabei nicht auf die Schmiedearbeit des Hephästos an, sondern auf die an einander gereihten Bilder, die uns noch heute in schöner Ergänzung ein Kulturgemälde der damaligen Zeil entrollen. Reichthum der Bilder und Anschaulichkeit der Darstellung mögen Hand in Hand gehen: aber nie soll sich die letztere dazu hergeben, ein todtes Register der Dinge, einen Katalog zusammenzustellen, nie dem gerichtlichen Inventar oder der kaufmännischen Anzeige in die Hände arbeiten; denn mit solcher Häufung des Bedeutungslosen wird das Bild für die Phantasie zerstört und es beginnt der todte Verstandes- und Gedächtnißkram, der nicht in die Dichtung gehört, auch nicht in die Halbdichtung, als welche Vielen der Roman erscheint.

Schlagende Beispiele für diese Ueberwucherung mit dem werthlosesten Detail der Schilderung bieten die gepriesensten neufranzösischen Romane. In seinem „Numa Roumestan“ giebt Alphonse Daudet die Schilderung einer Südfruchthandlung; statt das Bild derselben durch einige hervorstechende Züge unserer Phantasie einzuprägen, giebt er ein seitenlanges Verzeichniß der hier aufgespeicherten Schätze. Man mag dem begeisterten Südländer die Erinnerung an die Fruchtgärten seiner Heimath zugute halten; aber dem Romandichter kann man diese Abschweifung in die Pomologie oder die kaufmännischen Waarenbücher nicht verzeihen. Emile Zola schildert in seinem Roman „Au bonheur des dames“ einen kaufmännischen Riesenbazar, ein Weißwaarengeschäft in allen Stoffen; wenn er die großen Ausstellungen beschreibt, so nimmt seine Muse einen gewissen begeisterten Flug und die phantasievolle Gruppirung und Beleuchtung ist nicht ohne dichterischen Reiz; daneben finden sich aber Kapitel, an denen die nüchternste Aufzählung der einzelnen Waaren, die trockenste Rubricirung des Waarenlagers in allen seinen Abtheilungen in monotoner Wiederkehr den geduldigsten Leser zur Verzweiflung bringt, wenn er nicht selbst in dieser Geschäftsbranche arbeitet und an ihr ein besonderes Interesse nimmt. Am meisten berechtigt ist diese Schilderung der äußern Welt, wenn dabei Lichtstrahlen aus dem Gemüthe auf dieselbe fallen: so wenn Zola gegen den Schluß seines Romans hin den Chef des großen Etablissements durch alle Räume wandern läßt, unbefriedigt durch den Glanz und die Fülle, die er in allen findet, weil ihm überall der Name der Geliebten in die Ohren klingt, die trotz dieses Reichthums ihm ihre Gunst versagt.

Ein solcher Mißbrauch wird auch mit architektonischen Schilderungen getrieben, die uns den Aufriß der Gebäude mit der Genauigkeit eines um einen Preis sich bewerbenden Baumeisters wiedergeben. Heinrich Laube führt in seiner „Gräfin Châteaubriand“ uns den Bau der französischen Lustschlösser mit der Passion eines Architekten auf; er ergeht sich in einer Dekorationsmalerei, wie ein dramatischer Dichter, der mit der Peinlichkeit eines Regisseurs die Scene arrangirt. Ebenso läßt Emil Brachvogel in seinen Romanen oft das feine Gefühl für den Unterschied des Topographischen und Poetischen vermissen. Die Neubauten des großen Gebäudes Au bonheur des dames, die allmählich das ganze Stadtviertel in Anspruch nehmen, schildert Zola mit einer die Phantasie verwirrenden Ausführlichkeit. Wir wollen aber keine selbständigen Baurisse in der Poesie, die fortschreitende Handlung soll sich von selbst den erweiterten Schauplatz erobern oder eine poetische Stimmung die Lokalität der Phantasie einprägen.

Auch das Treiben der Menschen in den verschiedensten Gewerben, in jener durch die moderne Civilisation so ins Feinste und Kleinste ausgearbeiteten Thätigkeit, die mit Hilfe der mannigfachsten technischen Werkzeuge schafft, hat eine äußerliche Seite. Doch auch hier ist ein „zuviel“ vom Uebel.

Schon in Freytag’s „Soll und Haben“ wird uns der Verkehr in einer Materialwaarenhandlung und diese Waaren selbst bisweilen zu eingehend geschildert; doch sind der Darstellung stets humorifsische Lichter aufgesetzt, und das läßt sie nirgends ungenießbar erscheinen. Weit trockener sind die Auseinandersetzungen über die Technik des Dachdeckergewerbes in Otto Ludwig’s „Zwischen Himmel und Erde“ und die Abschnitte über Forstkultur in Auerbach’s „Waldfried“. Wenn uns Zola in seinem vorhin erwähnten Romane die Eintheilung des großen Bazars, die Obliegenheiten der verschiedenen Angestellten, das ganze Treiben in Küche und Speisesaal schildert, so ist das Alles bare Prosa, ohne jede dichterische Beleuchtung; es könnte in jeder Beschreibung dieses Etablissements, die keinen andern Zweck hat, als die Leser von seinen Einrichtungen zu unterrichten, ebenso gut seine Stelle finden. In Zola’s „Germinal“ erfährt man aufs Genaueste, wie es in einem Kohlenbergwerke hergeht; der Autor verwerthet auch hier eine Reihe gesammelter Kenntnisse: gleichwohl herrscht hier im Ganzen mehr Stimmung; wie ein dichter Kohlenstaub liegt’s auf allen Bildern; das Aschgraue und Freudlose dieser Existenz unter der Erde wie auf ihr in diesen vegetationslosen, von der industriellen Arbeit geschwärzten und versengten Gegenden tritt in einem düstern, ergreifenden Kolorit vor uns hin.

Wie aber soll es mit der Darstellung der Menschen, die im Romane eine Rolle spielen, gehalten werden, soweit es ihre äußere Erscheinung betrifft? Gewiß wollen wir ein lebendiges Bild von ihnen erhalten; aber nicht der Dichter giebt es uns, der uns ihre Physiognomie Zug für Zug, ihre Gestalt mit der Genauigkeit eines Steckbriefes schildert, sondern der im Verlaufe der Handlung bald hier bald dort einen frappanten Zug aufleuchten läßt, aus dem unsere Phantasie selbstschöpferisch das Gesammtbild gestaltet. Wir wollen nicht das todte Gesicht sehen, sondern das wechselnde Mienenspiel, welches uns die Züge zeigt, indem es sie belebt. Das Alles hat schon Lessing in seinem „Laokoon“ ein- für allemal, wo er den Unterschied zwischen Malerei und Poesie schildert, festgestellt und mit gewohnter Prägnanz ausgesprochen. Und doch wird dagegen fortwährend gesündigt: wir erhalten Personalbeschreibungen, welche die Gesichter gewissenhaft Zug für Zug nach den Rubriken der Physiognomik schildern, sodaß wir, wenn wir beim Kinn angekommen sind, schon vergessen haben, wie die Stirn aussieht.

Aehnlich ergeht es mit den Kostümbildern, die uns oft so ausführlich vorgezeichnet, so sauber kolorirt werden, als handle es sich um die Figurinen für einen Theaterschneider. Leider ist ein so großer Dichter wie Walter Scott hierin mit seinem bedenklichen Vorbilde vorangegangen; seine archäologische Liebhaberei hat ihn dazu verführt, und unsere neueren Archäologen, die sich auf die Romandichtung werfen, zögern nicht, hierin seinem Beispiele zu folgen. Wer daher glaubt, er brauche im Romane das Leben blos abzuschreiben, der wird schwerlich die gewünschten Wirkungen erzielen, sondern nur Langeweile, ein Gefühl des Unbehagens und der Nüchternheit hervorrufen. Die Welt mit des Dichters Aug’ zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_458.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)