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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 49.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Der Zauber war gesprochen – und jetzt erschrak Veverl vor ihrem eigenen Muthe. Sie begann an allen Gliedern zu zittern, krampfhaft umschlossen ihre Finger den Stengel der Edelweißblume. Frost und Hitze wechselten in ihrem Körper, ihr Herzschlag stockte, und der Athem drohte ihr zu versagen. Mit angstvollen Blicken starrte sie umher in der tiefen Dämmerung – mit jedem Augenblick meinte sie die geisterhafte Gestalt des Beschworenen vor sich auftauchen zu sehen – aber Sekunde um Sekunde verrann, die Sekunden wurden zu Minuten, mehr und mehr verschleierte die sinkende Nacht den Grund, und nur das dumpfe Rauschen des Höllbachs war zu hören, sonst kein Laut rings in der dunklen Runde.

Endlich schüttelte Veverl aufseufzend das Köpfchen. Es war Erleichterung, was sie empfand, und nicht Enttäuschung. „’s muß dengerst net das rechte Bleaml sein!“ flüsterte sie.

„Es hilft nix – bleiben muß ich – bleiben die ganze Nacht!“ dachte sie schluchzend, „und zwar hier am Höllbachgraben.“ Dann hob sie die zitternde Hand, bekreuzte sich und begann zu beten.

Während sie so mit leiser Stimme ein Vaterunser um das andere sprach, überkam eine ruhige, tröstliche Stimmung ihr Gemüth. Sie konnte beten – was hatte sie da zu fürchten? Ewig würde die Nacht ja auch nicht währen, meinte sie – und bei grauendem Morgen schon mußte Dori in die Sennhütte kommen; dann würde er mit Enzi ausgehen, um sie zu suchen und zu finden.

So begann sie sich in ihr Schicksal zu ergeben, und mit Geduld ertrug sie die heftigen Schmerzen an ihrem Fuße, im dessen Knöchel sich eine glühende Geschwulst gebildet hatte.

Die Nacht war da; kühl und finster lagerte sie über den Bergen; nur wenige Sterne funkelten mit mattem Schein am Himmel, der sich mit dünnen Nebelschleiern überzogen hatte. Von den felsigen Höhen fuhr ein kalter Wind zu Thal, bald zu trägem Luftzuge sich dämpfend, bald fauchend unter jähen, heftigen Stößen; es war ein Wind, der nahen Regen verkündete.

Veverl kannte die Bedeutung dieses Windes. Mit besorgten Blicken schaute sie in die westliche Ferne und sah vom Horizonte eine schwarze Wolkenmauer emporsteigen, die auf ihrem Zuge Stern um Stern vom Himmel löschte.

Mühsam rückte sie einem Felsblock entgegen, hinter welchem sie die scharfe Kälte des Windes weniger zu spüren hatte und wohl auch einigen Schutz vor dem

Adolph Menzel. Nach einer Photographie von Adolph Halwas, Hofphotograph in Berlin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 805. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_805.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2024)