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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Unsere Hausglocke.

Eine Weihnachtsgeschichte von W. Heimburg.
Mit Illustrationen von Alexander Zick.

Auch am heiligen Abend hat unser Einer keine Ruhe! Meine Frau zündet vielleicht eben die schlanken Kerzchen des Baumes an, beschaut noch einmal lachend das stereotype Weihnachtsgeschenk, die buntgestickten Morgenschuhe, das sie mir seit dreißig Jahren regelmäßig unter die Weihnachtstanne legt, und will nun die Thürklinke heben, um zu rufen: „So, Alter, jetzt darfst Du kommen!“ Da schrillt die Glocke durchs Haus. – Eine Doktorglocke, wenigstens die unsere, hat einen ganz eigenthümlichen Klang, so gellend bang und so ungemüthlich. Macht es, daß sie mit Angst gezogen wird, mit schreckensvoller Hast, oder ist es das Bewußtsein, du mußt hinaus aus dem traulichen Heim, hinaus in Sturm und Regen an ein Kranken-, vielleicht ein Sterbebette? Ich weiß es nicht, aber meine Frau und ich, wir sind einig, der schrille Ton kann durch Mark und Bein dringen, zumal des Nachts. Am Weihnachtsabend nun, da klingt sie noch ganz besonders, die alte Glocke. An dem Feste des Friedens und der Freude sollte eigentlich kein Mensch krank werden, aber – du lieber Himmel! – was habe ich an den Weihnachtsabenden nicht gerade alles erlebt! Ich habe einen Familienvater sterben, plötzlich aus vollstem Wohlbefinden zum Tode gehen gesehen; ich habe am Bette der jungen Mutter gestanden und ihr das eben Geborene in die Arme gelegt, just a!s der alte Stadtmusikus mit seiner Bande vom Rathhausthurme blies: „Vom Himmel hoch da komm ich her!“ Ich habe den armen Handwerksburschen, der auf der Landstraße in einer Schneewehe verklammt gefunden wurde, die Augen öffnen sehen und ihm ein Glas Weihnachtspunsch kredenzt, habe am Bettchen der maserkranken Kleinen vom Christkindchen erzählen müssen und habe Schuster Blankenfeldt’s hübsche Lore vom Brückengeländer weggezogen, über das sie eben in unser langsam ziehendes Flüßchen springen wollte, weil ihr Schatz ihr just zur Bescheerung die Treue aufgesagt.

Das sind Geschichten, die passiren Einem alle Tage, nicht wahr? Aber am vierundzwanzigsten December sieht man sie mit anderen Augen an, mir geht es wenigstens so. Und wie ich zurück denke an die Weihnachtsabende, die vergangen sind, seitdem ich hier in Oldberg als Arzt thätig bin, heben sich aus den dreißig zwei ganz besonders hell und lebendig hervor. Kein Wunder; ich werde ja täglich daran erinnert.

Unser Städtchen ist klein, es zählt heute fünftausend Einwohner, vor zehn Jahren, von welcher Zeit ich zunächst sprechen will, zählte es noch weniger. Es liegt abseits der großen Heerstraße; auch heute macht die Eisenbahn einen Umweg, als wolle sie vermeiden, sein träumerisches Dasein durch Pfeifen und Rollen zu stören. Der Thurm der einzigen Kirche müßte eigentlich als Berühmtheit angeführt werden, er ist windschief, nicht ganz so schief wie der bekannte Kollege in Pisa, aber annähernd. Sonstiges Sehenswerthe ist absolut nicht vorhanden, wenn man nicht ein paar eiserne Kugeln in der schlichten Rathhausmauer dazu rechnen will, die aus Tillyschen Kanonen stammen. Die alten grasbewachsenen veilchendurchblümten Wälle ziehen sich noch immer um die rothbedachten spitzgiebeligen Häuser; zur Sommerzeit flattert lustig weiße Wäsche dort oben und die Jungen spielen Indianer darauf. – Die Straßen sind menschenleer und haben schlechtes Pflaster, und auf dem Marktplatz steht ein Roland von Stein. Am Ende einer stillen Gasse liegt mein Haus; es ist zweistöckig, hat niedriges Parterre, eine Sandsteinbank vor der Thüre und darüber hängt ein Fliederbaum seine Zweige. Wenn er im Sommer blüht, kommen die alten Frauen aus der Nachbarschaft und bitten meine Line um ein paar Blüthen davon zum Trocknen, sie kuriren hier zu Lande alles Gebreste mit Flieder- oder Kamillentee – ein trauriges Faktum für den Arzt.

Das Haus ist geräumig und still, viel zu groß für uns Einsamgebliebene. In der Mitte ein gewölbter kühler Flur, rechts meine Behausung – Warte- und Arbeitszimmer, links die beiden Zimmer meiner Karoline. Dort sitzt sie am Fenster hinter ihren Blumenstöcken und strickt oder näht, just noch so still anmuthig wie damals, als sie, eben achtzehnjährig, mein Weib wurde. Sie hat hübsche Aussicht dort, uns gegenüber steht kein Haus mehr, die Probsteistraße mündet hier, grad herunter liegt die alte Probstei, sie scheint die Gasse abzusperren. Line kann die hohe spitze Thüre in der Mauer beobachten und sieht die Gipfel der Ulmen in dem Garten schwanken. Im Winter scheint deutlich der dreistöckige schmale Fachwerkbau hinter dem kahlen Gezweig hervor. Es gab einmal eine Zeit, da habe ich nicht gern auf die Thüre geschaut – doch ich spreche ja eben vom Fensterplatz meiner Line. In der Nische hängt ein epheuumsponnenes Bild, ein Mädchenkopf ist es, en miniature auf Elfenbein gemalt. Unsagbar lieblich schaut es aus dem schmalen Goldrähmchen. Von diesem blauschwarzen Lockenkopf wollte ich erzählen.

Vor ungefähr zehn Jahren pflegte ich wöchentlich ein- bis zweimal auf meinen Krankengängen jenes Haus drüben, die Probstei, zu besuchen. In der Nähe sah man recht deutlich, wie es seinem Verfall entgegenging. Seine Besitzer kümmerten sich nicht mehr darum, sie bauten sich auf den angrenzenden Gütern neue schönere Schlösser, höchstens galt es einmal als Absteigequartier, wenn einer der Freiherren genöthigt war, von Amtswegen im Städtchen zu verweilen. Um jene Zeit aber war es bewohnt, d. h. der mittlere Stock, und zwar hauste in den getäfelten finstern Zimmern eine entfernte Verwandte der Familie mit ihren Töchtern; eine Gräfin Seefeld, und ich hatte die Ehre, den Hausarzt spielen zu dürfen.

Sie war eine blasse leidende Frau, die nur die allerbescheidensten Mittel zum Leben besaß, aber das durfte man um himmelswillen nicht bemerken. Es ist ja ein Talent, das der liebe Gott uns Aerzten den nervösen Frauen gegenüber verliehen hat, möglichst auf alle Schrullen eingehen zu können, und so ließ ich mir denn mit wahrer Engelsgeduld immer und immer wieder erzählen, daß sie diese kleine weltferne Stadt nur gewählt habe, weil das laute Treiben der großen Gesellschaft ihren gestörten Nerven nicht zusage, und daß ihr Aufenthalt hier lediglich ihrer Neigung zur Ruhe und Stille entspreche. Ich nickte mit dem Kopfe, gab ihr Recht und sah weder das schadhafte schwarze Seidenkleid, noch das die größte Dürftigkeit verrathende Um und Auf der ganzen Umgebung.

Sie fügte dann noch regelmäßig hinzu: „freilich, wenn die Ilse erwachsen ist, muß ich zurück in die große Welt, eine zeitlang wenigstens.“

„Bis sich das Komteßchen verheirathet –“ pflegte ich zu bemerken.

Und dann blitzten die matten Augen auf. „Ja, lieber Doktor, sie ist sehr schön, sie wird einmal Aufsehen machen, nicht wahr?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_849.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2024)