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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Bemerkungen der Schwägerin. Man konnte ihr aber nicht böse sein; denn dieses primitive Négligé war von so leuchtender Sauberkeit, daß es bedeutend appetitlicher aussah, als das zum Morgenrock degradirte braune Kaschmirkleid der Frau Steuerräthin, dessen zerdrückte Falbeln und abgeschabte Sammetbesätze den Eindruck machten, als sei es aus der Lumpentruhe wieder hervorgeholt. Lucie, in zierlicher Morgenhaube und weißem Schürzchen, goß den Damen eben Kaffee in die Tassen, als ihr Bräutigam eintrat.

„Guten Morgen!“ rief die Mutter ihm entgegen. „Wo warst Du in dieser Nacht?“

Er küßte erst bedächtig Luciens Stirn, klopfte Dettchen auf die Schulter und nahm dann seinen Platz vor der Tasse ein, auf welcher in großer blauer Schrift prangte: „Dem Hausherrn“, eine Aufmerksamkeit Dettchens für den heimkehrenden Neffen.

„Bei Frau von Löwen,“ sagte er ruhig und langte nach einer Semmel.

„Ist sie kränker?“ fragte Lucie erschreckt.

„Sie bedarf der äußersten Schonung und Aufmerksamkeit. Es wäre mir lieb, Lucie, wenn Du Nachmittag hingingest; sie hat dringend nach Dir verlangt.“

„Gern!“ versicherte das junge Mädchen.

„Das geht nicht!“ erklärte die Mutter; „wir sind zum Kaffee bei der Postmeisterin gebeten; sie hat Lucie extra mit eingeladen.“

„Dann laß sie entschuldigen; ich versprach Frau von Löwen Luciens Besuch und möchte der Kranken mein Wort halten.“

„Was fehlt ihr denn? Sie hat sich doch sonst um keinen Menschen bekümmert?“ bemerkte die alte Dame ärgerlich.

„Sie ist nervös –“

„Das heißt, sie hat den Spleen!“ platzte die Mutter heraus.

„Den hat sie nicht! Du vermagst die Sache wohl nicht ganz zu beurtheilen, Mutter, weil Du sie nicht bis in alle Einzelheiten kennst. Kurz und gut, ich wünsche, daß Lucie – in Frau von Löwen’s Interesse als Kranke und in meinem Interesse als Arzt – hinüber geht und sie ein wenig aufzuheitern sucht.“ Er hatte während dieser Debatte Kaffee getrunken und nahm nun aufstehend seinen Hut vom Stuhl. „In der Voraussetzung natürlich, daß Lucie es gern thut,“ fügte er hinzu.

Sie nickte und folgte ihm auf den Flur. „Was war es mit ihr?“ flüsterte sie.

„Sie hatte einen Anfall von Verzweiflung; sie ist eine sehr nervöse Natur. Ich fand sie mit Beängstigungen und Athemnoth in ihrem Zimmer umherlaufend; das ganze Haus war in Alarm. Sie wollte immer zu Dir.“

„Ist das sehr schlimm?“ fragte das Mädchen mit angstvollen Augen.

„Nein, mein Kindchen; sie wird heute schon viel ruhiger sein. Sie muß vor allen Dingen auf andere Gedanken gebracht werden.“

Als Lucie wieder in die Wohnstube kam, sagte Frau Steuerräthin just zur Schwägerin:

„Man muß sich ja geniren zu erzählen, daß sie bei der Löwen ist! Alfred mit seinem neumodischen Toleriren aller solcher Spektakelangelegenheiten hätte auch besser gethan, in dem großen H. zu bleiben, wo Sodom und Gomorrha zum guten Tone gehören.“

„Aber, Schwägerin!“ vertheidigte Dettchen. „Was thut er denn? Du kannst der jungen Frau nichts nachsagen.“

Frau Steuerräthin schien wirklich „nichts“ zu wissen; sie begnügte sich mit einem langgezogenen „Na! na!“ Und sich zu Lucie wendend, sagte sie:

„Gestern Morgen hast Du vergessen, die Glasglocke über dem Federbouquett abzustäuben. Als Nachmittags die Postmeisterin kam, ist sie mit dem Finger darüber gefahren und hat sie dann an das Licht gehalten. Ich habe gethan, als sähe ich es nicht, aber –“

„Ach verzeihe,“ bat das Mädchen und begann das Staubwischen sofort bei der fraglichen Glocke.

Gegen vier Uhr ging sie zu Hortense. Vor ihr wanderte in gemessenem Schritt die Schwiegermutter im braunseidenen Kleide, den Haubenkorb und Pompadour am Arm. Sie war absichtlich etwas früher fortgegangen als Lucie, obgleich sie eine kurze Strecke den Weg gemeinschaftlich hatten; sie wollte es nicht mit ansehen, daß die Braut ihres Sohnes in das Meerfeldt’sche Haus hineingehe. Nun war sie durch eine Bekannte aufgehalten und mußte es erleben, daß ein leichter Schritt sie einholte. Ohne den Kopf zu wenden, duldete sie des Mädchens Begleitung; nur die Augen gingen in den linken Winkel und streiften das blühende Gesicht.

„Sie werden es Euch schon danken,“ sagte die alte Dame, „daß Ihr ‚ihretwegen‘ anständige Menschen vor den Kopf stoßt. Alfred wird schon sehen, daß ich Recht hatte – aber dann ist’s gewöhnlich zu spät.“

Sie nickte Lucien noch einmal zu, als sie in der Nähe der Pforte waren, und schritt erhobenen Hauptes weiter.

(Fortsetzung folgt.)




Der russische Muschik.

Mit Originalzeichnungen von G. Broling.

Vor dem „Obros“.

Alle Großstädte besitzen mehr oder minder ihre eigenartigen Volkstypen, die ein Spiegelbild des betreffenden nationalen und gesellschaftlichen Lebens sind. In den Städten Mitteleuropas haben indeß die Alles nivellirenden, unaufhörlich fortschreitenden Kulturbestrebungen schon viel Althergebrachtes und Eigenthümliches verwischt und dem öffentlichen Leben ein gleichförmiges Kleid angezogen, das man füglich die Ordonanzuniform unserer nüchternen Zeitrichtung nennen könnte. Nur im äußersten Süden, im Osten und Nordosten Europas hält man noch zähe an den nationalen Ueberlieferungen fest, aus denen sich naturgemäß verschiedene eigenthümliche Typen herausgebildet haben, die ausschließlich nur den betreffenden Ländern und Städten angehören. Wer könnte sich Neapel ohne Lazzaroni, den Osten ohne seine vielerlei charakteristischen, farbenprächtigen Gestalten, Petersburg und Moskau ohne Muschik denken?

Muschik, das fremde Wort, läßt sich schwer übersetzen. Es bedeutet nicht schlechthin Bauer, wie Viele meinen mögen, welche von Land und Leuten in Rußland eine oberflächliche Kenntniß nahmen. Bauer ist im Russischen „Kristjanin“, und so bezeichnet er sich auch selbst. Muschik hingegen ist Mann, der gemeine Mann. Auch der Ehemann wird so von den Frauen des niederen Standes bezeichnet: „Moi Musch“, mein Mann. „Mi Muschiki“ (wir Leute) hören wir auch den russischen Arbeiter sagen, wenn er von sich und seines Gleichen spricht. Sodann hat Muschik auch den Sinn von „Bauernkerl“, in so fern man nämlich einen Tölpel bezeichnen will.

Treffender hätte unser Künstler diesen Begriff der russischen Sprache, diese Figur der russischen Welt nicht illustriren können. Den Typus des Kristjanin, des russischen Bauern, dürfen wir uns ästhetischer und um vieles netter, sauberer vorstellen. Sauber und malerisch selbst dann, wenn wir auch keinen bäuerlichen Stutzer und Dorfprinzen im faltigen Manchesterbeinkleid und dunklen ärmellosen Kaftan, unter welchem das über dem Beinkleid getragene, grellfarbige Hemd von Zitz oder Seide gar elegant hervorlugt, im Auge haben. Der Stift des Künstlers zeigt uns

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_042.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2023)