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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Als der Hauptmann das Zimmer Hortense’s verlassen, blieb es ein Weilchen still zwischen den beiden Freundinnen. Hortense, die bis dahin scheinbar unbefangen und liebenswürdig geplaudert hatte, saß jetzt in dem kleinen Sessel, blaß und mit einem herben Zug um den Mund. Lucie schob ihren Stuhl etwas näher und bog den blonden Kopf zu ihr herunter.

„Hortense,“ fragte sie, „hattest Du eine Unannehmlichkeit? Wie kamst Du aber auch darauf, die Herren zu empfangen?“

Die junge Frau lachte kurz und hart auf und antwortete nicht. Lucie schwieg erschreckt; sie hatte schon einmal dieses Lachen gehört; es war an jenem Tage, dessen sie nie ohne Schauder gedenken konnte. Sie nahm ein Buch von dem niedrigen Tischchen neben der Chaiselongue. „Darf ich Dir vorlesen?“ fragte sie hastig.

Hortense blieb stumm; sie machte eine Bewegung mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: „Lies oder lies nicht – mir ist es gleichgültig.“

Lucie zögerte ein Weilchen, dann las sie, es war eine Novelle von Heyse „David und Jonathan“, die sie gestern Nachmittag begonnen. Sie wußte nicht, ob Hortense zuhörte, sie vergaß während des Lesens die Gegenwart und nahm an dem Geschick des vom Freunde betrogenen Hans so innig Theil, daß ihr die Stimme leicht bebte. Ein leises Rauschen ließ sie einhalten, Hortense war aufgestanden und schickte sich an, hinauszugehen.

„Verzeih, ich habe Kopfschmerz,“ murmelte sie.

„Aber, liebes Herz, dann lese ich nicht, Du brauchst es doch nur auszusprechen,“ sagte Lucie verletzt. „Wenn es Dir unangenehm ist, so gehe ich, ich meinte es ja nur gut.“

„Fräulein,“ rief Frau Rein, die plötzlich in der Thür erschien, „bitte um Tafelgedeck und Silberzeug; die Herren bleiben zum Abendessen.“

Lucie nickte und griff nach dem Schlüsselkorb; Hortense war ohne ein Wort durch die entgegengesetzte Thür hinausgegangen. Das Mädchen wandte sich seufzend um und ging, das Verlangte zu besorgen, Frau Rein folgte ihr.

„Nur für drei Kouverts, bitte,“ sagte sie. „Herr Rostau ist mit dem einen Herrn bereits fortgefahren. Bitte, die Fischgabeln, Fräulein, ich habe Forellen.“

Lucie gab still, was gefordert worden, dann ging sie unruhig durch die Zimmer, Hortense zu suchen, sie ängstigte sich um ihr verstörtes Wesen. Die junge Frau war nirgends zu finden. An dem Wohnzimmer stand sie still und pochte mit leisem Finger:

„Hortense, liebe Hortense, kann ich Dir etwas thun?“

Es blieb still dort drinnen. Durch die offenen Fenster neben ihr klang das Rollen der Kegelkugeln und die Stimmen der Herren. Sie faßte leise, ganz leise den Drücker, die Thür war verschlossen.

Hortense hörte es wohl, aber sie rührte sich nicht. Sie hatte ein Morgenkleid angezogen und lag regungslos auf dem Sofa, zur Decke emporstarrend, die mit geblümtem Stoff zeltartig bekleidet war. Ihr Gesicht glühte fieberheiß; das Herz schlug ihr zum Zerspringen vor Zorn und Weh. War sie denn in alle Ewigkeit dazu verdammt, unter dem Ruf ihres Vaters zu leiden? Mit welchem Rechte durften die Menschen frech und hämisch an sie herantreten und mit plumpem Finger an die wunde Stelle rühren? Sie lachte wieder auf. „Thörin!“ flüsterte sie.

Was hatte sie denn eigentlich gewollt? Wie kam sie dazu, plötzlich nachgiebigere Regungen zu verspüren, ihm mit der Annahme dieses Besuches eine Freude machen zu wollen? Dieses Besuches oder eines anderen! Sie kannte ja die Menschen nicht. Recht so, sie hatte ihren Lohn dafür erhalten!

Die funkelnden Thränen standen ihr in den Augen, während sie über sich selbst lächelnd die Schultern zuckte. Sie konnte es ihm noch nicht einmal klagen, sie konnte nicht bitten: „Beschütze mich, daß mir die Menschen nicht weh thun!“ Sie besaß sein Vertrauen nicht, und er nicht das ihre – und nie würde sie es besitzen; sie hatte es verscherzt; jetzt war es zu spät.

„Zu spät!“ wiederholte sie leise. Sie dachte daran, wie sie am Hochzeitsabend mit sich gekämpft, ob sie ihm sagen sollte: „Ich will Dir etwas erzählen, Du hättest es längst wissen müssen,“ und wie ihr Mund doch stumm blieb. Sie dachte, wie sie an der Seite seiner Mutter gesessen und unter dem milden Frauenblick das Eis an ihrem Herzen zu thauen begann; sie hätte die Arme um die Kniee der alten Frau schlingen mögen und ihr sagen: „Ich bin so namenlos schlecht, Mutter; ich habe Waldemar verschwiegen, daß die Leute mit Fingern auf die Löwens zeigen dürfen; ich habe nicht den Muth gefunden, aus Stolz – aus Furcht, er könne mich lassen.“

Umsonst! Der Bann auf ihren Lippen war auch da nicht gewichen. Sie hatte zum Aufbruch getrieben, gemeint, hier, allein mit ihm in der Stille ihres Hauses, würde es ihr leichter werden; aber sie schwieg auch hier, sie war scheu und absprechend gegen ihn und – allmählich war es zu spät geworden, zu spät!

Anfänglich war sie neben ihm geschritten, dann entfernte sie sich mehr und mehr von ihm und schritt am äußersten Rande des Weges, und jetzt hatte auch er die Mitte verlassen und ging am Rande, aber nicht an dem nämlichen wie sie, am entgegengesetzten. Der breite Weg lag zwischen ihnen; sie konnten sich die Hand nicht mehr herüberreichen, sie konnten nicht lesen, was im Auge des Andern stand, nicht hören, was ihr Mund flüsterte; kein Zweifel – Weber war müde geworden, er liebte sie nicht mehr!

Sie sah empor und preßte die Hände an die Schläfen. Draußen auf dem Korridore klangen wieder leichte Tritte und leises Klingen wie von einem Schlüsselbund. Mit finsterer Miene schaute sie nach der Thür.

Das war sie, die in der Mitte des Weges ging, zwischen ihnen, deren Ohr das Wort, deren Auge die Blicke auffing, die ihr zukamen, die es in alle Ewigkeit unmöglich machen würde, daß sie je wieder Seite an Seite mit ihm weitergehe!

„Hortense!“ rief die weiche liebliche Stimme.

Sie sah die Beiden in diesem Augenblick, wie sie heute früh durch die Allee schritten, eifrig sprechend, nachdem er für sie doch kein Wort gefunden. Da hatte sie sich auf ihr Pferd gesetzt und war stundenlang im Walde umher geritten, kämpfend, ringend, und mit den Regentropfen hatten sich ihre Thränen gemischt. Sie hatte unter einer Eiche gehalten am Waldessaume und in die nasse Landschaft geschaut, das Mittagläuten aus dem Dorfe war just herüber geklungen, als sie die Hände gefaltet und gesprochen: „Es soll anders werden! Ich will versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen, ich will da gehen, wo jetzt Lucie geht, will das thun, was sie vollbringt, die Mühen der Hausfrau auf meine Schultern nehmen! Ich ertrage es nicht, daß –“

Wie war ihr erster Versuch gleich so kläglich gescheitert! Sie fühlte, nun sei es mit ihrer Kraft wieder vorbei auf lange, vielleicht auf immer. Sie würde sich mehr und mehr auf sich selbst zurückziehen, und Lucie – ja, die würde neben dem Schlüsselkorb auch sein Herz eines Tages beherrschen, nicht daß sie betrügen wollte, nein, nein! – aber es würde sich so ganz von selbst machen, so naturgemäß! Und dann –

„Hortense, ich habe eine Bestellung von Deinem Mann; bitte, mach auf!“

Sie sprang empor. Wieder flog das verzerrte Lächeln um ihren Mund. Langsam ging sie hinüber und öffnete.

Luciens Augen hingen besorgt an ihr. „Hortense, Du bist krank, Du hast Dich erkältet heute früh,“ sagte sie ängstlich und legte ihre kleine kühle Hand auf die Stirn der jungen Frau.

Mit einer unwilligen Bewegung wich diese aus und trat zurück.

„Herr Weber läßt Dich fragen, ob es Dir angenehm ist, wenn er mit den Herren allein speist; Du könntest ja eine Unpäßlichkeit vorschützen, meint er.“ Sie sprach es stockend.

„Sehr einsichtsvoll!“ flüsterte Hortense, „natürlich! Mit Vergnügen.“

„Ich lasse unser Abendessen in das grüne Zimmer bringen, und wir speisen einmal wieder allein zusammen, Hortense, wie früher, ja? Willst Du?“

„Wie Du bestimmst.“

„Ich will ihm Antwort sagen lassen, Hortense, und noch einmal die Tafel inspiciren, dann bin ich gleich bei Dir, entschuldige einen Augenblick.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_226.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)