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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wirkliche „Antiphona de morte“. Nach dem Siege hatte ein junger Freiburger die drei Wegestunden, welche Murten von seiner Vaterstadt trennten, in ununterbrochenem Lauf zurückgelegt, um seinen Landsleuten die frohe Kunde zu bringen. Vor dem Stadthause brach er vor Erschöpfung zusammen und vermochte nur noch das Wort „Sieg!“ hervorzustammeln; dann verschied er. Geistlichkeit und Volk sangen dem Wackern tief ergriffen Notker’s Sterbelied; dann erst überließ man sich dem Jubel über die errungene und gesicherte Freiheit. Ein Lindenzweig, den der Bote getragen, wurde an derselben Stelle, wo der Jüngling verschieden, in den Boden gepflanzt; er wuchs zum mächtigen Baume heran, und heute noch grünen die weitausgespannten, von einem Balkengerüst gehaltenen Aeste des vierhundertjährigen morschen Stammes.

Mit dem folgenden Jahrhundert, der Reformation, begann für Notker’s Antiphona eine neue Zeit, ein neues Leben. Luther dichtete das „Media vita“ um, fügte zwei weitere Strophen hinzu, und nun begann es als protestantisches Kirchenlied:

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“

Die Urmelodie, von Notker zu seinen lateinischen Versen in Neumen notirt, hatte schon bei der ersten Verdeutschung der Antiphona eine Umwandlung erfahren müssen. Luther behielt die im 15. Jahrhundert gebräuchliche Weise bei. 1524 erschien sie mit dem Lied in Walther’s Gesangbuch.

Die letzte Umwandlung erfuhr die „Antiphona de morte“ des Mönches von St. Gallen durch unseren Schiller; denn der Gesang der barmherzigen Brüder im „Tell“ am Schluß des vierten Aktes:

„Rasch tritt der Tod den Menschen an –
Es ist ihm keine Frist gegeben“ etc.

ist ja nur eine poetische Umschreibung von Notker’s

Media vita in morte sumus.




Blätter und Blüthen.

Ueber Volkstheater. Wer dem Theaterleben der Gegenwart folgt, der wird mit großer Aufmerksamkeit auch die leisesten Symptome beachten, welche darauf hindeuten, daß man einen Anlauf nimmt, die Gleise des Schablonenwesens und der Alltagsroutine, welche allzu sehr ausgefahren sind, zu verlassen und in andere Bahnen einzulenken. Diese Symptome vermehren sich in jüngster Zeit; denn gleichzeitig von verschiedenen Orten kommt die Kunde, daß man „Volkstheater“ begründen will, welche dem Kultus der dramatischen Muse in würdiger, volksthümlicher Weise huldigen sollen, unter äußeren Bedingungen, die sie der großen Menge des Volkes zugänglich machen.

An verschiedenen größeren Bühnen werden seit längerer Zeit „Klassikervorstellungen zu wohlfeilen Preisen“ veranstaltet: es hat sich dabei ergeben, daß Schiller’s, Goethe’s und Shakespeare’s Werke, auch die einiger neueren auf den wegen unserer Klassiker wandelnden Dichter bei herabgesetztem Eintrittspreis regelmäßig das Haus mit einem empfänglichen und begeisterten Publikum füllen, während jene ernsten Dramen sonst vor leeren Rängen und einem oft gähnenden fashionablen Publikum aufgeführt werden. Die Nutzanwendung lag nahe; man kann für solche wohlfeilen Aufführungen ernster Dichtungen eine dauernde Stätte begründen und den Kreis derselben durch die Aufnahme eigentlicher Volksstücke im ernsten und heitern Genre erweitern.

Unverkennbar ist es überhaupt, daß das Publikum in letzter Zeit sich von der faden Kost der Schwänke und Schwanklustspiele immer mehr abwendet und eine wachsende Neigung bekundet, sich an Vorführungen ernster Dichtung zu erfreuen. Ernst von Wildenbruch’s Trauerspiel „Das neue Gebot“ hat am Berliner Ostendtheater eine so lange Reihe gutbesuchter Aufführungen erlebt, daß es zum Löwen der Saison an dieser Bühne geworden ist. Mag die Mode dazu viel beigetragen haben: es ist immerhin erfreulich, daß auch ein talentvoller tragischer Dichter Mode werden konnte. Und Schillers „Jungfrau von Orleans“, von dem Ensemble der Meininger aufgeführt, hat vier Wochen lang das Viktoriatheater gefüllt: diese „Jungfrau von Orleans“, für welche sich nach der Ansicht hochgelehrter Aesthetiker eigentlich nur die Schüler mittlerer Gymnasialklassen noch zu begeistern ein Recht haben. Mag die Inscenirung durch die Meininger zu diesem Erfolge wesentlich beigetragen haben: nun, das ist eben das Ei des Kolumbus! Man gebe die großen Tragödien in einer Weise, daß sie das Publikum anzuziehen und zu fesseln vermögen.

Von Berlin und Wien kommt gleichzeitig die Nachricht, daß man die Begründung von Volkstheatern ins Auge gefaßt hat. Ludwig Barnay, ein gefeierter Gastspieler, der noch jüngst unter den Bewerbern um die Direktion des frankfurter Stadttheaters genannt wurde, soll das Walhallatheater in Berlin, bisher die Stätte der Ausstattungsoperette, welche im Kostüm aller Völker und Zonen umherwandelt, für ein neu zu begründendes Volkstheater bestimmt haben, dessen Leitung er übernehmen will. Das Theater ist eines der größten Berlins, faßt bei Weitem mehr Personen, als Schauspielhaus, Wallnertheater und selbst Viktoriatheater, von dem räumlich etwas beschränkten Deutschen Theater gar nicht zu sprechen. Daß unter Ludwig Barnay’s Direktion das höhere Drama eifrige Pflege finden wird, dafür bürgt der Name des Künstlers und der Charakter seiner Kunstleistungen.

In Wien ist von mehreren Unternehmungen einer Volksbühne die Rede. Wie es scheint, will auch das Burgtheater, vielleicht um einer entstehenden Konkurrenz die Spitze zu bieten, eine derartige Filiale gründen, unter Betheiligung und Leitung der ersten Regisseure und Schauspieler. Auch von Worms kommt die Kunde, daß dort die Bürgerschaft ein Volkstheater gründen will, auf welchem besonders volksthümliche patriotische Stücke zur Aufführung kommen sollen.

Wieviel sich von allen diesen Plänen verwirklichen wird, muß die Zukunft lehren; daß sie zu gleicher Zeit auftauchen, zeugt von einem vorhandenen Bedürfniß und scheint eine Wendung des Zeitgeschmacks anzukündigen.

Gewiß werden sich verschiedene Ansichten über das Repertoire einer Volksbühne geltend machen: man wird mit Recht zunächst an die eigentlichen Volksstücke denken, wie sie Anzengruber verfaßt und wie sie mit starker Dialektfärbung von den Münchnern, den Schauspielern des Theaters am Gärntnerplatz, bei ihren Gastreisen auch in Norddeutschland vorgeführt werden. Der Dialekt und das Lokalkolorit braucht nicht ausgeschlossen zu werden: es kommt dabei nur auf die Provinzen und die Städte an, wo Volksbühnen errichtet werden. Wird dort derselbe Dialekt gesprochen, wie in den vorgeführten Stücken, so ist er in diesen vollkommen berechtigt. Dagegen gehören Fritz Reuter’sche Stücke in Süddeutschland und oberbayerische Dorfkomödien in Norddeutschland nicht auf eine Volksbühne. Ihnen fehlt die unmittelbare Wirkung; es bedarf zu ihrem Verständniß einer künstlichen Vermittelung, des Hineinlebens in einen fremden Dialekt, sie sind daher in der Mitte einer anders gearteten, anders sprechenden Bevölkerung bloß als dramatische Delikatessen zu betrachten, die nur für eine ästhetische Feinschmeckergemeinde genießbar sind.

Unbedingt gehören die großen Tragödien im Stile Shakespeare’s und Schiller’s auf eine Volksbühne; sie werden damit aus dem Treibhause einer oft widerwilligen Kunstpflege in ihren rechten Nährboden versetzt. Dafür spricht der Enthusiasmus, welchen die klassischen Dichtungen bei dem Publikum der wohlfeilen Aufführungen erwecken. Der stiefmütterlich behandelten Tragödie der Neuzeit eröffnet sich damit eine neue glänzende Perspektive.

Die Posse, vor allem die Zauberposse im Raimund’schen Stil mit poetischem Anhauch und sittlichen Tendenzen, darf nicht ausgeschlossen sein; eben so wenig das Ausstattungsstück, wenn dasselbe nicht bloß um des dekorativen Schmucks willen geschrieben ist, sondern neben den nicht zu verschmähenden glänzenden Schaustücken für das Auge auch für Geist und Herz Nahrung bietet.

Dagegen wird unter allen Umständen von der Volksbühne auszuschließen sein die comédie larmoyante, das Salonstück im Stile der Franzosen, jede Art von Intriguenstück und, wie wir meinen, neben dem Konversationsdrama auch die heute modischen Schwanklustspiele mit ihren sich stets wiederholenden Situationen und koulissenpappenen Charaktermarionetten: es giebt ja genug Kunststätten, welche dies Genre pflegen, und wenn sich die Gebildeten an den Purzelbäumen dieser haltlosen Komik bisweilen zu ergötzen scheinen, so soll man wenigstens das Volk damit verschonen.

†      

Der Niagara im Dienst der Industrie. (Mit Illustration S. 321.) In Amerika fehlt es nicht an unternehmenden Männern, welche furchtbare Abgründe überbrücken, himmelhohe Alpenketten durchbohren, die tosendsten Wasserfälle bändigen und gewinnbringenden Bestrebungen dienstbar machen. So sind die berühmten St. Anthonyfälle, welche der jugendliche Mississippi bei Minneapolis bildet, durch gewaltige Werke auf einer inmitten des Stroms gelegenen Insel nutzbar gemacht, und zahlreiche kleine und große Industrie-Anstalten beuten seine in alle Theile der Stadt geleitete Kraft aus, welche derjenigen von 12 000 Pferden gleich geachtet wird.

Mannigfach sind die Vorschläge gewesen, wie man in gleicher Weise auch dem Stromriesen Amerikas, dem gewaltigen Niagarafalle, beikommen könne. An abenteuerlichsten Projekten und Zukunftsbildern hat es nicht gefehlt: haben doch schon einzelne Projektemacher verlauten lassen, daß sie mit der aus der Kraft der Fälle erzielten Elektricität die viele, viele Meilen entfernt gelegene Riesenstadt New-York erleuchten wollen.

Daß die Stromfälle in solcher Weise unterjocht werden können, halten wir kaum für möglich und noch weniger für wünschenswerth, da die erforderlichen Anlagen und Bauten zweifelsohne die ursprüngliche Großartigkeit des Schauspiels, welches die Niagarafälle bieten, vernichten müßten.

Die Lösung des Projektes scheint jedoch in glücklichster Weise durch einen neueren Entwurf gegeben zu sein. Nicht der Niagarafall, sondern der Niagarastrom vor Bildung der Fälle soll dienstbar gemacht werden, und dies kann in der Weise erzielt werden, daß man weit oberhalb der Fälle einen Theil der Wassermassen in einen stark abfallenden, unterirdischen Tunnel leitet, dessen Mündung unterhalb der Fälle zu Tage tritt (vergl. die mit einem Kreuz bezeichnete Stelle auf der Abbildung). Somit wäre die Ausbeutung der Wasserkraft des Niagara möglich, ohne daß seiner Schönheit auch nur der geringste Abbruch geschieht. Der Abgang der seitwärts geleiteten Wassermengen würde nicht im mindesten auffällig sein, da, wie jeder Besucher der Fälle weiß, die Massen des Niagarastromes so bedeutende sind, daß der Ausfall nicht größer sein würde, als wenn man einen Becher voll Wassers einem enormen Reservoir entnähme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_335.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)