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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

letzten Tagen zu dritten Personen gethan hatte. So hatte sie zu einer Nachbarfamilie gesagt: „Was nur mit unserem Konstant ist? Er will sich immer erschießen.“ Auf die Bemerkung, daß er das wohl nicht thun werde, hatte sie in ähnlicher Weise erwiedert: „Immerhin besser, er ist weg, als wir sind in Gefahr. Ich gebe ihm die Flinte und helfe ihm auch losschießen.“

Die Peter selbst war indeß der irdischen Gerechtigkeit entzogen; sie war noch vor Beginn des Aufnahmeverfahrens im Zuchthause gestorben. Auch ein eigenthümlicher Zufall! Sie hatte vor ihrem Tode wohl in der Annahme, daß Loth inzwischen enthauptet sein werde, eine Art von Geständniß gemacht, wonach Loth den Zorn erschossen haben sollte und sie nur dabei zugegen war. Die Sachverständigen erklärten die Angaben als höchst unwahrscheinlich.

Die Geschworenen verneinten diesmal die Schuldfrage; der Gerichtshof hob das frühere Urtheil wieder auf und sprach den Angeklagten frei. Loth begriff den ganzen Ernst der Situation. Er dankte andern Tags persönlich Allen, die zu seiner Rehabilitirung beigetragen hatten. Das Gefühl einer gewissen moralischen Mitschuld am Tode seines Herrn mochte ihm doch wohl nicht fremd sein. Er faßte die verbüßte Strafzeit unter dem Gesichtspunkt einer Buße und als mahnenden Wegweiser für sein ferneres Leben auf. Die Wittwe des Ermordeten ist vor Kurzem begnadigt und aus der Haft entlassen worden.

Es giebt in der Welt keine absolute Wahrheit; war aber der Verlauf der Sache so, wie ihn die letzte Verhandlung herausstellte, so war das Leben dieses armen Dienstknechts einer Tragik verfallen in der Verkettung eigenthümlicher Umstände, wie sie sonst nur die Phantasie des Dichters zu kombiniren vermag. Mehr als irgend ein anderer aber legt dieser Fall Zeugniß ab von der Ohnmacht des menschlichen Urtheils. Fr. Helbig.     




Die Einsame.
Erzählung von S. Kyn.

Du schläfst noch nicht, Tante?“ fragte besorgt ein junges Mädchen, als es in vorgerückter Nachtstunde die Stubenthür hastig hinter sich ins Schloß drückte, um sogleich neben den bequemen Sessel am mächtigen Kachelofen zu treten, in welchem die Greisin saß. „Ich verstehe, alte Erinnerungen wurden wach!“ sprach sie weiter und blickte auf eine altmodische Truhe nieder, welche geöffnet zu deren Füßen stand und als Behältniß für das schimmernde Brautgewand dienen mochte, das auf den Knieen der alten Dame lag. Wie beruhigt wandte sie sich erst dann zur Seite, um den dunklen Mantel von den Schultern zu nehmen, in dem sie augenscheinlich einem dichten Schneegestöber ausgesetzt gewesen sein mußte; denn noch lagen in den Falten desselben Flocken, die alsbald in der warmen Zimmerluft zu schmelzen begannen.

Die großen, ausdruckslosen Augen der weißhaarigen Frau starrten vor sich hin, während der horchende, gespannte Ausdruck der Blinden nicht von dem faltigen Antlitz wich.

„Wie hast Du Dich amüsirt, Kordula?“ fragte sie dann nach einer kurzen Weile des Schweigens die Nichte, welche indessen langsam und sorgfältig die Handschuhe von den Fingern streifte. „Hatte Frau Melly vielleicht heute einmal nicht ihren liebenswürdigen Tag? Du bist wortkarg, mein Kind; fandest Du bisher an einem derartigen Abend Gefallen, so pflegtest Du mittheilsamer zu sein!“

Kordula’s Achseln hoben sich langsam, und der bittere Zug um den Mund, die finster zusammengezogenen Brauen gaben ihr eine seltsame Aehnlichkeit mit dem starren Frauenantlitz, in welches der Finger von Sorge und Gram untilgbare Spuren eingegraben hatte und das sich jetzt in geisterhafter Blässe vom Hintergrund der dunklen Sessellehne abhob. Dann schob sie einen Stuhl neben den Sitz der Tante und ließ sich in müder Haltung nieder.

„Wie es bei Wolfersdorff’s war? Je nun, wie immer, Tante Renate,“ erzählte sie in scheinbar gleichgültigem Tone; „man hat musicirt, soupirt, getanzt, das ist Alles!“

„Das heißt also, Du hast die Sängerinnen auf dem Piano begleitet, im Nothfall die zweite Stimme eines Duettes übernommen, zum Tanz aufgespielt, ist es nicht so?“ fragte die alte Frau hart und schonungslos. „Sage mir, wie kannst Du immer wieder ihre Einladungen annehmen; warum folgst Du nicht meinem Rath, Dich ihnen fernzuhalten? Darf man nur vegetiren, nicht leben, mein Kind, so vollzieht sich das leichter in der Einsamkeit. Auch der trotzigste Geist wird in der Stille zahm und giebt sich drein!“

Kordula warf mit einer eigenthümlichen Gebärde den vorher leicht geneigten Kopf in den Nacken zurück, und ein heißer Strahl brach aus den halb von schweren Lidern bedeckten Augen.

„Ich bin jung, Tante! Melly ist das einzige Band, welches mich noch mit dem Leben außerhalb unserer vier Wände verknüpft!“

„Sind die Feste im Wolfersdorff’schen Hause denn so genußreich, daß sie die Demüthigungen aufwiegen, welche Du in diesem Kreise vom Schicksal begünstigter Menschen zweifellos ertragen mußt? Nein, ich will Dir sagen, was Dich zwingt, Dich ihnen immer von Neuem wieder auszusetzen!“ fuhr die Blinde wie vorhin fort – „Du hoffst dort einen Gatten zu finden! – Träume – Schäume! Wer heirathet heut zu Tage noch ein armes Mädchen! Ja, wärest Du schön, dann vielleicht! Aber Du selbst gestehst es ein, unansehnlich zu sein. Könnte ich Dich noch einmal sehen, Kora,“ fügte sie nach kurzem Sinnen hinzu, und ihre Hand glitt tastend über das Antlitz der Nichte. „Die lieblichen Kinderzüge mögen scharf geworden sein – einen schmallippigen Mund hast Du, ein energisches Kinn. Ach ja, Sorge und Kampf ums Dasein von Kindheit an machen nicht schön, das glaube ich nur zu wohl!“

„Geld, Tante Renate! Gieb mir ein Vermögen, und mich findet Keiner häßlich.“

Die Greisin lachte kurz bei dem leidenschaftlichen Ausruf auf. „Ein flüchtiger Vogel, den Niemand erhascht, es sei denn, er flattere Dir freiwillig in den Schoß.“

Kordula blickte indessen verächtlich an dem schwarzen, vertragenen Seidenkleid nieder, das ihre schlanke, ein wenig vornüber geneigte Gestalt umschloß.

„Wenn ich mich doch ein einziges Mal wie Melly kleiden könnte,“ entschlüpfte es ihr plötzlich. „Ach Tante, liebe Tante, laß mich ein einziges meiner Papiere wechseln – laß mich einen einzigen Winter lang leben –“

„Ein paar Monate leben, um dann ein ganzes Dasein lang dafür zu büßen? Nein – nein – nein, Kordula!“ stieß die Blinde hervor.

In diesem Augenblick glitt der schimmernde Brokat an ihr nieder, und sein Rauschen brachte eine eigene Bewegung in die erstarrten Züge. Wie ein holder Schein einstigen Glückes zog es durch die erstorbenen Augen, und als Tante Renate sich niederbeugte, um das kostbare Gewebe in die Truhe zurück zu legen, strichen ihre Finger fast zärtlich darüber hin.

„Warte geduldig, mein Kind!“ murmelte sie dabei in ungewohnter Milde. „Jedes Dasein hat einen Tag, wenigstens eine Stunde Glück zu verzeichnen, und der Glanz einer solchen Stunde wirft auch in die dunkelste Existenz einen hellen versöhnlichen Schimmer. Warte, Kora, warte!“

Indessen hatte sie die Truhe geschlossen und trug sie vorsichtig in den großen Eichenschrank in der Ecke; nur der feine Lavendelduft, der den ganzen Stoff durchdrungen, zog noch durch das Gemach.

Kordula Adrian verharrte währenddem unbeweglich auf ihrem Platze; nur immer tiefer gruben sich die Falten auf ihrer Stirn ein. Mußte sie um der Tante willen den Schrei ihres Herzens zurückdrängen, ihren Mienen wenigstens brauchte sie keinen Zwang aufzuerlegen, und unablässig nagten die weißen Zähne an der Unterlippe. Ah, dürfte sie es Einem anvertrauen, wie sie litt, was man ihr heute wieder angethan! Und die schmalen Hände ballten sich in ohnmächtigem Zorn zusammen.

Sie war fast seit der Geburt vater- und mutterlose Waise. Die einzige Schwester des Vaters hatte sich ihrer angenommen. Obwohl sie als Hauptmannswittwe auf neunhundert Mark Pension

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_348.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)