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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
VI.
24. Januar. 

Hugo!“ sagte ich neulich zu meinem Gebieter, „sind wir eigentlich in Deutschland zu arm für unsere Bildung oder zu gebildet für unsere Armuth?“

„Wie meinst Du das?“ fragte er, „das klingt ja ganz philosophisch.“

„O, ich meine nur, daß wir doch eigentlich immer Dinge anfassen müssen, die für eine gebildete Frau unschicklich sind, und dann hinterher wieder dergleichen thun, als wüßten wir gar nichts davon.“

„Die Nothwendigkeit des Letzteren sehe ich nicht ein,“ meinte er. „Was glaubst Du denn, was ein Anatom oder Chirurg Alles ‚anfassen‘ muß, oder auch Dein Freund im melancholischen Künstlersammtrock draußen in seiner Fabrik? Mir kommt es vor, als ob die wahre Bildung eben darin bestehe, jeder Lage gerecht zu werden, ohne sich dadurch in seinem Innern bedrückt zu fühlen.“

Er hat gut reden, denn seine „Lage“ ist unter allen Umständen eine recht erträgliche; wie aber die meine vorgestern war, das sollst Du jetzt hören, liebste Marie, Du einzige Vertraute meiner Kalamitäten! Wir haben hier seit acht Tagen eine Bärenkälte, über Nacht gefror in der Speisekammer Alles: Milch, Eier, Aepfel, Orangen: das war aber noch nicht das Schlimmste. Rike ging schon ein paar Tage lang mit eingebundenem Kopf und fürchterlichem Humor herum; das ganze Haus roch nach dem Brustthee, den sie für „ihren Kartarr“ kochte; dabei putzte sie aber mit Fanatismus, jeder Einrede zum Trotz. Und nun, als ich vorgestern früh ins Speisezimmer kam – kalt, dunkel, unaufgeräumt, draußen Alles still, und endlich in ihrer Kammer Rike mit dick geschwollenem Hals im Bette. Das war ein Schrecken! Denn hier giebt es nicht, wie in S., augenblicklich zu holende Aushilfen; da heißt es, selbst anfassen. Ich machte nur schnell das Frühstück für Hugo, damit er fort kam, und dann – ja dann! Kannst Du Dir Emmy vorstellen, Kohlen schleppend, Asche ausleerend, kehrend, Geschirr aufspülend und zwischendurch den Grobheiten lauschend, welche Rike für jeden wohlgemeinten Zuspruch aus dem letzten Viertel ihrer Luftröhre hervorpfiff?

Glücklicherweise kam gegen zehn Uhr Klara, das gute Kind, mit dem ich mich schon recht befreundet habe; sie zerschmolz in Entsetzen und Mitleid; „ihr Ideal“, wie sie mich schwärmerisch nennt, in einer so höchst schauderhaften Situation zu erblicken, blieb gleich da, half, wo sie konnte, lief zum Arzt; dann kochten wir zusammen, und es ging gut! Aber im Speisezimmer, wo es zu Mittag warm sein sollte, blieb es kalt; der bisher überheizte Ofen zog nicht, hatte schon gestern stark geraucht, und nun brannte es gar nicht mehr! Dazu die fürchterliche Kälte, die durch die Scheiben hereinschnitt!

„Klara,“ sagte ich, „weißt Du was? Statt wieder zum Ofenkehrer zu laufen, putzen wir das Rohr selbst aus; das ist kein Hexenwerk.“

„O nein, freilich,“ sagte sie, „das hab’ ich schon oft mit angesehen.“

Ein Borstwisch mit langem Stiel stand in der Holzkammer; wir holen ihn, steigen hinauf, öffnen das Thürchen und: rutsch, rutsch! das Rohr durch!

„Da steckt Etwas,“ meint Klara; „wenn ich mir wüßte, was das ist?“

„Gieb her!“ sage ich, stoße mit aller Kraft zu – puff! fährt am andern Ende die Kapsel hinaus und ein Berg von Ruß fällt ins Zimmer, auf den Teppich und steigt als schwarze Wolke in die Höhe!

„Klara,“ sage ich nach einer langen Schreckenspause, „nun wissen wir, was drinnen war.“

„Ja, Frau Assessor, aber wie kriegen wir den Ruß wieder heraus?“

Rathlos sah ich sie an und dann zum Fenster hinaus in den schönen, beneidenswerth reinen Schnee, der sich so glänzend weiß über die Gärten dehnte. Und darüber kam mir die Erleuchtung!

„Schnell, Klara, so geht’s! Wir fassen den ganzen Gräuel in eine Schüssel zusammen; dann holen wir einen Kübel voll Schnee im Hofe, werfen ihn auf den Teppich und kehren so lange herum, bis der Ruß daran hängen bleibt.“

Das thaten wir, es ging auch; aber den Schmerz in den Fingern beim Schneeholen, die Wäsche hinterher, bis wir glücklich wieder rein waren! Hugo hatte doch keine Ahnung, als er sich im warmen Zimmer zu Tische setzte, was da Alles vorausgegangen war!

Nein, das soll mir Niemand bestreiten: die Aufgaben einer „gebildeten Hausfrau“ sind doch etwas gar zu mannigfaltig! Erst soll man Musik treiben und wissen, wo Bulgarien liegt, dann seine Kleider und Hüte selbst machen, hierauf nicht nur sich freuen, wenn kluge Männer reden, sondern auch verstehen, was sie meinen, wenn sie Einen mit aufgewärmten Schopenhauer’schen Redensarten anschwindeln; man soll kochen können wie ein Hotelchef und dann wieder bei Gelegenheit gelernter Kaminkehrer sein! Findest Du nicht, daß ich einige Berechtigung zu der oben gemeldeten Frage an meinen Gatten besaß?

Sie war mir durch den Kontrast eingegeben; denn Tags zuvor hatten wir vornehm gethan auf dem Kasinoball zur Einweihung der neuen Gasbeleuchtung. Wie mir das komisch vorkam, die altbekannten Lüster, zu denen man bei uns höchstens einmal hinaufguckt, wenn Einen ein Herr zu bodenlos langweilt, als Gegenstände der allgemeinen Bewunderung zu sehen! Was sie beschienen – na, ich will nicht raisonniren, aber mäßig war’s! Aufgebügelte Sommerkleider, dazwischen wieder Einiges, was den Namen Toiletten verdiente. Ich hatte mein hellblau Seidenes mit dem Spitzenüberkleid und den Akazien: ich glaube, es hat Effekt gemacht; wenigstens schien mir ein gewisser Ausdruck in Fräulein Frida’s Gesicht dafür zu sprechen. Klara war mit uns; ich hatte sie mit Gewalt noch etwas menschlich hergerichtet, einen ordentlichen Ausschnitt an ihrem philisterhaften Rosakleid durchgesetzt, daß ihre hübschen Schultern zur Geltung kamen, und mit einer Handvoll von meinen Rosen und Schleifen nachgeholfen. So sah sie doch mit ihren prächtigen dunkeln Augen und den krausen braunen Haaren allerliebst aus. Nur ist sie noch schrecklich schüchtern.

Brandt war auch da und mit ihm, denke Dir, jene Frau von Kolotschine, die letzten Winter in S. die Geschichte mit dem Grafen L. hatte, über die so viel geredet wurde. Natürlich mußte damals Brandt auch für die „interessante Frau“ schwärmen, die eine so souveräne Verachtung für deutsche Philisterhaftigkeit hat. Damals beachtete sie ihn nicht sonderlich; aber jetzt, wo sie ein paar Wochen zum Besuch ihrer Schwester, einer ihr ganz unähnlichen, sehr zurückgezogen lebenden strengen Majorsfrau, hier ist, scheint er ihr einziger Trost zu sein.

Sie hatte eine schwarze, schmelzglitzernde Toilette an, sah übrigens noch außerordentlich hübsch und pikant aus („was für wunderschöne rosa Wangen diese Dame hat!“ meinte das gute Unschuldsschaf Klara) und sagte, uns lorgnettirend, ehe noch Brandt zur Vorstellung kommen konnte: „Das ist ja ein wahrer Antinouskopf, Ihr Assessor!“ Natürlich laut genug, daß er es hören konnte, und – darin sind alle Männer gleich schwach – es schmeichelte ihm doch! Er verbeugte sich viel verbindlicher, als gerade nöthig gewesen wäre. Wir setzten uns in eine Ecke, weil der beginnende Ansturm für die Füße gefährlich wurde; er vergaß auch über der lebhaften Konversation, daß wir diesen ersten Walzer hatten mit einander tanzen wollen, und so tanzt’ ich ihn mit Brandt, welcher gekommen war, mich darum zu bitten.

Es tanzte sich schlecht in dem langen, schmalen Saal der „Krone“; zum Ueberfluß rannten Einen noch jeden Augenblick die alten, wackelbeinigen Honoratioren an, die hier mit ihren Ehelichsten einen vorsichtigen Walzer riskirten; dazwischen fuhr dann wieder einmal ein vereinzelter Lieutenant als schneidiger Komet mitten durch das Gedränge. Ich hatte bald genug an diesem Vergnügen, steuerte also meinen Tänzer zu Klara hinüber, die eben frei war, und stellte ihr den im Städtchen bereits vielbesprochenen „interessanten Doktor“ vor. Sie erwiederte seine kühle Verbeugung mit ihrem lebhaftesten Erröthen; das Weitere überließ ich ihnen und begab mich zu meinem Gatten zurück. Eben hörte ich noch Frau von Kolotschine zu ihm mit ihrem schmachtenden Accent sagen: „Ich liebe alles Einfache, Große, Kraftvolle. Die Lügen der Civilisation sind mir verhaßt. Kennen Sie Tolstoi?“

„Nur sehr oberflächlich,“ sagte der abscheuliche Mensch. Nicht eine Zeile von ihm hat er je gelesen!

„O, den müssen Sie näher kennen lernen. Er ist so groß. Ich kann Ihnen seine Hauptwerke geben; ich glaube sicher, daß sie Ihnen gefallen werden!“ Dazu ein langer Blick und ein langsames Fächerzuklappen. Und was für animirte Augen dieser Hugo machte!

Aber, was war das?! Die neuen Gasflammen fingen an zu flackern, daß Einem ganz schwindelig wurde; plötzlich setzten sie aus. Alles starrte nach den Lüstern, wo längliche Flammen schwebten. Auf einmal totale Finsterniß und allgemeines Gelächter. Der älteste Kronensohn, der bisher als eleganter Tänzer sich geschwungen, bat voll Verzweiflung die verehrten Herrschaften, doch nur einige Minuten Geduld zu haben, und tastete sich hinaus. Ein neues schallendes Gelächter begrüßte gleich darauf den Hausknecht, der mit einem trübseligen Talglicht im Messingleuchter hereintrat, das er vor die Musikanten hinstellte. Bald nach ihm erschien ein Kellnerzug mit den alten ehrlichen Petroleumlampen, die nur jetzt etwas schwer anzubringen waren! Indessen, die Stimmung litt nicht darunter; in einem gemüthlichen Halbdunkel wurde weitergetanzt; auch Hugo erinnerte sich jetzt doch, daß er mir den ersten Walzer im Ehestand noch schuldig war. Frau von Kolotschine entfernte sich bald; die Geschichte war ihr doch wohl zu „einfach“ und nicht „groß“ genug!

„Doch eine merkwürdige Frau,“ sagte Hugo zu Brandt, der sie begleitet hatte und zurückkam.

„Jawohl,“ erwiederte dieser und sah bekümmert auf den Boden. „Sie hat Vieles erlebt.“

Ja, das glaube ich auch! –

„Ach, Frau Assessor, wie himmlisch schön war es heute!“ flüsterte mir Klara ein paar Stunden später beim Fortgehen zu. „Sehen Sie nur das reizende Bouquett, das mir Herr Doktor Brandt im Kotillon brachte!“

„Klara,“ erwiederte ich ihr strenge, „in einer gewissen Beziehung taugen die Männer alle nicht viel. Nimm Dich nur in Acht!“

Und habe ich nicht Recht, meine Marie?

Das war mir doch eine ganz merkwürdige Erfahrung. Wenn sogar Hugo – aber nein, ich will alle weiteren Nutzanwendungen sparen.

Wenn Dir einmal der Tag kommt, wo Du Dich auch über Deinen Richard verwunderst, dann mache es nur wie ich: klug und nicht dergleichen gethan! Und mit dieser Weisheitsregel schließt für heute

Deine Emmy. 




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