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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.0 Von R. Artaria.


VII. 1.
Neustadt den 1. Februar. 

Nein, liebste Marie, da bist Du doch im Irrthum! Ich fühle mich gar nicht „unbehaglich in diesem Krähwinkel“; im Gegentheil, es ist mir manchmal ganz verdächtig, wie leicht ich mich im Ganzen einlebe und was für Stiefelsohlen und Kommissionenkörbe ich bereits natürlich finde. Daß ich manchmal sehr gern bei Euch wäre, ist gewiß, aber jedes Ding hat seine zwei Seiten, und hier lerne ich Etwas kennen, wovon man in der großen Stadt keinen Begriff hat: eine gewisse schöne Stille und Gemüthlichkeit, die mir wohlthut. In S. hetzt man doch sein Leben eigentlich auf eine unglaubliche Weise herunter! Was preßten wir zu Hause Alles in einen Tag hinein: Schlittschuhlaufen, Besuche, Theaterproben, schließlich noch eine Gesellschaft; wie rannten wir nach Hause, um dazwischen noch Toilette zu ändern, wie müde und abgespannt waren wir am Ende des Karnevals! Und wenn man gar die arme Mama ansah mit ihrer stehenden Sorgenfalte über unsere endlos aufzugarnirenden Röcke und ihrer Aengstlichkeit, ob wir hier „freundlich“ und dort „zurückhaltend“ genug waren, dann hätte man denken sollen, das Vergnügen sei doch die schwerste Arbeit von allen.

Hier aber, wo höchstens alle acht Tage etwas vorfällt, was auf diesen Titel von fern Anspruch erheben kann, hier geht man in sich und bekommt „Stimmung“ und fängt sogar an, den „Wilhelm Meister“ zu lesen, und fühlt dabei, daß man trotz aller Bildung herzlich unwissend ist. Aber das soll Alles noch kommen, Zeit habe ich jetzt und viele stille Stunden in meinem lieben, hübschen Zimmerchen, wo Sonnenlicht und Hyacinthenduft vom Fenster her strömen und nur das leise Uhrticken die Stille unterbricht. Dann und wann auch hallt ein gedämpfter Schall von der Küche her, wo Rike abspült.

Um sechs Uhr kommt Hugo nach Hause; dann lesen wir oder es wird Musik gemacht, wenn Brandt mit der Violine erscheint. Ich sage Dir, diesen Unheimlichen mache ich zahm! Früher imponirte er mir ungeheuer mit seinem spöttischen Lächeln und den kalten grauen Augen; aber jetzt hier in den einfachen Verhältnissen und gerade im Gegensatze zu Hugo’s energischer Tüchtigkeit kommt er mir so albern vor mit seinen Affektationen, daß ich manchmal die Geduld verliere und ihm tüchtig den Kopf wasche. Merkwürdigerweise verträgt er das sehr gut. „Sie sind eine Natur!“ seufzt er dann mit apathischer Resignation, und Klara, das gute Kind, die auch oft Abends dabei sitzt, sieht ihn dann mitleidsvoll aus ihren schönen Augen an wegen der vielen hohen und unverstandenen Schmerzen, die er unter seinem braunen Sammtkittel herum trägt. Denn von diesem läßt er nicht; er ist für ihn ein Ueberbleibsel aus den schönen müßigen Residenzzeiten, wo er ein Bischen Wissenschaft und sehr viel Atelierklatsch betrieb und sich stets zu den Künstlern hielt. Nun freilich hat ihn die „gemeine Noth des Lebens“ zwischen ihren Zangen; aber im Sammtrock erträgt sie sich doch offenbar etwas leichter. Und außerdem stechen seine blonden Kraushaare auch so hübsch dagegen ab!

„Klara,“ sagte ich neulich, „mache mir nur keine solche Dummheit und verliebe Dich in diesen Menschen.“

„O, Frau Assessor, wo denken Sie hin? Wie könnte ich auf einen so bedeutenden und geistreichen Herrn Anspruch machen!“

Der „hohe Stern der Herrlichkeit“, natürlich. Anders thun wir’s einmal nicht. Aber ich will die Augen offen halten. – Das Verhältniß zu diesem guten, unschuldigen Kind ist mir übrigens eine Herzensfreude. Nicht daß sie Dir den geringsten Eintrag thäte, meine herzliebste Marie, Du bist und bleibst die Erste, aber ich habe das Gefühl, hier einer Seele etwas nützen zu können. Und wenn man noch so glücklich zu Zweien ist, man spürt gleich eine Erhöhung des Behagens, wenn noch ein Paar dazu kommt und es mitgenießt! Das angebotene „Du“ hat Klara fast mit Entsetzen abgelehnt, „sie würde nie so keck sein“: aber zu ihr müsse ich es sagen, und so duzt denn jetzt meine zwanzigjährige Frauenwürde ihre achtzehnjährige Unerfahrenheit.

Ich war wiederholt bei ihr draußen in der großen Sägemühle, die stattlich und malerisch im Erlengrund liegt, und sah mir dabei ihre und Gustelchen’s Anstalten an. Das Letztere fand ich bemüht, einen Rehrücken in die unabgezogene Haut zu spicken, während vom Morgen her noch die schmutzigen Stiefel überall in der Küche herumstanden.

„Sie theilt sich die Arbeit am liebsten selbst ein!“ meinte Klara. Ich machte ihnen darauf hin Beiden den Standpunkt klar und freute mich, wie sachverständig das klang; dann wirkten wir zusammen, um den Rehrücken zu Schick zu bringen; darüber versäumte ich mich etwas und – ja, dann war der Gebieter ungnädig, als ich bei vollkommener Dunkelheit erst heim kam.

Das ist auch so ein Punkt! Erinnerst Du Dich noch, wie Fräulein Sendtner im Institut immer einen weisen Mann citirte, der gesagt haben soll: Alle Erfolge meines Lebens verdanke ich dem Umstand, daß ich immer eine Viertelstunde früher fertig war als nöthig. Das war zwar entschieden aufgeschnitten von dem Weisen; denn das kann Niemand; aber manchmal fällt mir doch jetzt das Wort ein, weil, unter uns gesagt, das der einzige Punkt ist, über den wir manchmal, Hugo und ich, schon fast Verdruß bekommen haben. Lieber Gott! Man hat eben dann und wann noch Etwas zu thun im Moment, wo ausgegangen werden soll. So ein Mann, der nur den Rock zu wechseln und den Hut aufzusetzen braucht, hat ja keinen Begriff, was Einem Alles vorkommen kann. Ein Stich an der Rockdraperie losgegangen, ein paar Schuhknöpfe, die eben dann abbrechen, wenn man’s am eiligsten hat – oder die Handschuhe sind fort, die eben noch da lagen, und man kann sie nicht finden, während der Mann vor der Thür herum wüthet, „er stehe nun bereits eine halbe Stunde da und noch sei kein Fortkommen.“ (Es ist nämlich erstaunlich, wie sie in solchen Fällen übertreiben, Hugo auch, obgleich er sonst so wahrhaft ist.)

Das Aergste aber, der Gegenstand, vor dem ich einen wahren abergläubischen Schrecken habe, als sei es ein heimtückischer Kobold, der sich mit Absicht versteckt, das ist mein Schlüsselbund; er hat mir schon schreckliche Viertelstunden bereitet. Ganz ohne solche geht es bei Andern auch nicht ab, das weiß ich; der alte Professor Michaelis z. B. pflegt auf eine Erkundigung nach seiner Frau ironisch lächelnd zu antworten: „Meine Frau ist wohl und sucht Schlüssel!“ Aber damit kann man sich nicht trösten. Frau Michaelis ist ja beinahe unzurechnungsfähig vor Zerstreutheit, mit der will ich mich nicht vergleichen lassen!

Neulich, am Sonntag, war es schrecklich! Die Schwiegermama erwartete uns zu Tisch, und sie ist ja von einer Pünktlichkeit, die etwas Unnatürliches hat. Alles geht bei ihr am Schnürchen: sie selbst, die alte Lene, der asthmatische Mops, der genau die Plätze kennt, wohin er darf und wohin nicht, die alte Kuckucksuhr, auf deren genauen Zeigerstand die Gäste einzutreten haben. Nun, an jenem Morgen hatte ich mich etwas versäumt – ich bin nun einmal keine Pedantennatur – und kam erst gegen Zwölf zum Anziehen. Da fand sich, wie immer, wenn es pressirt, noch allerhand: eine frische Krause war einzunähen, ein Nestel riß im Zuschnüren, und mit alle diesem Hin- und Herrennen war es plötzlich dreiviertel Eins. Hugo kam im Paletot mit den Handschuhen herein und sagte ungeduldig: „Bist Du denn noch nicht fertig, Emmy? Es ist die höchste Zeit.“ Nun, so Etwas muß man Einem ja nur sagen, der bereits in Aufregung ist; ich rief also heftig. „Verschone mich nur mit Drängen; das ist mir unausstehlich; ich bin ja so gleich fertig!“ und lief ins Schlafzimmer zurück, Hut und Mantel zu holen. „Bringe den Pultschlüssel mit!“ rief er mir nach, „ich muß noch Geld haben.“

Im Schlafzimmer waren alle Schubladen herausgezogen, aber kein Schlüssel daran. Zehn Minuten vorher hatte ich damit aufgeschlossen, das wußte ich, und nun war er weg. Ich rannte ins Eßzimmer – nichts! an den Weißzeugschrank in der Garderobe – nichts! in die Küche: „Rike, helfen Sie suchen, mein Schlüsselbund fehlt,“ zurück in den Salon: „Hugo, nur einen Augenblick, mein Schlüsselbund –“ Nun aber brach es los, der Mann wurde ordentlich wild, darüber kam ich natürlich ganz außer mir und fing an, mit fliegenden Händen Alles umzuwühlen, und inzwischen rückte der Uhrzeiger immer vorwärts und jetzt schlug es Eins. „Hugo,“ sagte ich flehend, „laß uns gehen! Deine Mutter ist sonst zu schrecklich böse, und ich suche heute Abend in Ruhe, wenn ich heimkomme.“

„Nicht einen Schritt,“ erwiederte er mit unheimlicher Ruhe und setzte sich rittlings auf den Stuhl. „Unser ganzes Geld liegt in dem Pult; wir gehen nicht eher, bis der Schlüssel da ist. Zu spät ist es nun bereits ohnedies.“

Mir brach der Angstschweiß aus; ich fing wieder die Wanderung durch die Zimmer an, suchte im Blumentisch, hinter den Fensterkissen, im Staubtuchkörbchen, im Kohlenkasten, im Bücherschrank; Hugo legte mit verbissenem Grimme den Paletot ab und zog die Handschuhe aus. Rike blieb schadenfroh in ihrer Küche; ich irrte zuletzt nur noch rathlos herum, kam dabei auch wieder in die dunkle Garderobe, da, plötzlich – ein Klirren auf dem Boden – ich bückte mich und fühlte den Schlüsselbund unter der schmutzigen Küchenwäsche, die ich vorhin noch aufheben wollte!

„Hugo, Hugo, da ist er!“ rief ich ganz glücklich, aber er war und blieb verstimmt, sagte nur noch: „Es ist jetzt gerade eine halbe Stunde zu spät!“ und redete unterwegs kein Wort. An der Gangthür schrie Lene: „Aber nein, so zu spät zu kommen, mein ganzer Pudding ist verdorben!“ Nun, das Uebrige kannst Du Dir jetzt selbst ausmalen – den Blick, der mich drinnen empfing, und die eiskalte Antwort auf meine gestammelte Entschuldigung: „ich bin das schon gewohnt, liebe Emmy, Rücksichten erwartet man von der heutigen Jugend nicht!“ Alles, was ich in den letzten Wochen allenfalls gewonnen, war jetzt mit einem Male wieder hin, ich fühlte mich moralisch abgethan und beugte mein schuldbeladenes Haupt auf die durch langes Stehen hartgewordenen Suppenklöße. Die Stimmung blieb tragisch, trotzdem das Essen nicht einmal so sehr verdorben war, umsonst suchte der gutmüthige alte Reutter mit seinen schrecklichsten Anekdoten Heiterkeit zu verbreiten; umsonst büßte ich dann den langen Nachmittag am Whisttisch, nachdem ein Versuch, mit Hugo zum Spaziergang zu entrinnen, schmählich mißglückt war. Ich war eigentlich am allerwüthendsten auf ihn, daß er mich so vollkommen im Stiche ließ. Weißt Du was? In gewisser Beziehung sind die Männer auch feige – wir fürchten die Spinnen und sie die Scenen! Das schreibe ich hier ganz im Allgemeinen, ich kann auch meine psychologischen Momente haben. so gut wie Frau v. Kolotschine, die mit Vorliebe das Verhältniß von Mann und Weib diskutirt.

O Gott, dabei fällt mir ein: ich muß sie ja in drei Tagen hier zum Abendessen haben, sie und noch vierzehn Andere! Ich fürchte mich entsetzlich, bis das vorbei ist. Wärst Du doch hier, daß wir mit einander berathen könnten!




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