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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

ersparen, in einer so bedrängten Lage von Denjenigen gesehen zu werden, mit denen er Jahre lang frei und freundschaftlich verkehrt hatte und hoffentlich bald wieder verkehren würde. Nur in einer Ecke des Zuschauerraumes saß ein einzelner Herr, der sich so klein wie möglich machte, den bebrillten Kopf tief gebeugt hielt und eifrig schrieb: der Berichterstatter des „North China Herald“.

Das Verlesen der Anklageschrift, das Verhör des Angeklagten, das Vernehmen der Zeugen, die Reden des öffentlichen Anklägers und des Vertheidigers, die Darlegung des ganzen Falles durch den Präsidenten endlich: alles Dies nahm viel Zeit in Anspruch. Das Verfahren hatte um zehn Uhr begonnen – nun war es ein Uhr. Büchner sah zum Erbarmen aus: todtenblaß mit fieberhaft leuchtenden Augen. – Der öffentliche Ankläger war sehr gelinde mit ihm umgegangen, aber der Präsident hatte gewissenhaft seine Pflicht erfüllt, ohne jede Voreingenommenheit Alles abzuwägen, was für und gegen die Anklage sprach, und dabei hatte sich Büchner eigentlich zum ersten Male klar gemacht, wie schwer, ja wie berechtigt der Verdacht sei, der auf ihm lastete. Seine Freunde, Prati besonders, hatten seine Unschuld als etwas so Selbstverständliches behandelt, daß auch er schließlich dazu gekommen war, seine Freisprechung als zweifellos zu betrachten. Bei der kalten, geschäftsmäßigen Zusammenstellung aller Momente, die dafür sprachen, daß Büchner der Dieb sei, überlief es ihn kalt. Wie wenn er schuldig befunden würde, schuldig eines Diebstahls? – Er konnte den Gedanken nicht ausdenken; er war zu schrecklich. Es summte ihm in den Ohren, es schwirrte ihm vor den Augen. Er schloß die Lider, und da erhob sich dicht vor ihm und schwebte auf und nieder der in Phosphorlicht bläulich leuchtende Stern, zu dem er wochenlang allnächtlich empor geblickt hatte; und seine Ohren vernahmen das Vorbeirauschen des dunkeln Wussong, der sich zu seinen Füßen dem unermesslichen Meere zuwälzte. Das schimmernde Licht erblasste, das summende Getöse verstummte; es wurde schwarz und still um ihn her. Er saß noch eine Weile, deren Dauer er nicht mehr ermessen konnte, mit geschlossenen Augen. Endlich schlug er sie wieder auf. Vor ihm stand sein Rechtsanwalt mit einem feuchten Taschentuch in der Hand, das nach Aether roch. – Büchner fühlte eine erfrischende Kühle an den Schläfen. Er blickte langsam, blöde um sich. Der Saal war leer; der Gerichtshof hatte sich zurückgezogen.

„Fassen Sie sich, Herr Büchner, haben Sie guten Muth!“ sagte der Advokat.

Gleich darauf öffnete sich eine Thür vor ihm, und die Richter erschienen wieder.

„Nichtschuldig!“

Mehr hörte er nicht. Er nahm alle Kraft, die er besaß, zusammen. Er wollte sich nicht ein zweites Mal schwach zeigen.

„Ein Glas Brandy,“ murmelte er. Der Advokat nahm ihn am Arm und führte ihn aus dem Gerichtssaal ins Freie.

Dort sah er sich plötzlich von einer jubelnden Menge umringt: „Hurrah für den alten Büchner!“ Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen; Prati, der erregbare Südländer, weinte laut und sprach in seiner Aufregung italienisch. In der ganzen Versammlung war nur ein Gesicht, das nicht freudig bewegt war: das des Freigesprochenen. Dieser blickte stumm und anscheinend theilnahmlos um sich und sagte endlich leise: „Bitte, meinen Chair.“ Der Tragstuhl war sogleich bereit, und die vier starken Kulis trabten mit ihrer Last davon.

„Wohin, Master?“

„Zu Frau Onslow!“

Als er durch den Garten getragen wurde, der vor Frau Onslow’s Hause lag, erblickte er auf der Veranda die lichte Gestalt Edith’s. Sie eilte ihm entgegen, aber einige Schritte vor ihm blieb sie stehen und wurde so bleich wie er.

„O Georg, o Georg! Ist es möglich? Sprich! Sag’, daß ich mich irre!“

Aber er konnte nicht sprechen, es war ihm, als müsse er ersticken. – „Meine Edith, meine einzig geliebte, gute, arme Edith!“ brachte er endlich hervor. Da brach das Mädchen mit einem leisen Aufschrei zusammen. Ihre Ohnmacht gab ihm seine Kraft wieder. Er nahm sie und trug sie auf die Veranda, und in demselben Augenblick erschien auch Frau Onslow.

„Freigesprochen!“ sagte Büchner kurz, und dann bemühte er sich mit Frau Onslow um die Ohnmächtige.

„Lassen Sie uns einen Augenblick allein,“ sagte diese ruhig; „das wird schnell vorübergehen. – Rufen Sie das Kammermädchen; sie soll kaltes Wasser und Eau de Cologne bringen.“

Büchner entfernte sich schleunigst und that, wie ihm geheißen war. Dann sah er am äußersten Ende der Veranda, wie die zwei Frauen mit der Leidenden beschäftigt waren; aber er wagte sich nicht in ihre Nähe. Die Kammerfrau kam und ging. Frau Onslow drehte ihm beharrlich den Rücken und verdeckte durch ihre breite Gestalt die vor ihr liegende Edith. Endlich wandte sie sich um, und durch ein freundliches Zeichen mit dem milde lächelnden Haupte beschied sie Büchner in ihre Nähe. Vor ihm, mit aufgelösten, feuchten Haaren und bleichem Antlitz, aber mit einem Ausdruck innigen Glückes in den großen Augen, lag seine Braut.

„Du böser Mann,“ sagte sie, „wie Du mich erschreckt hast!“

„Aber womit denn, mein Kind? Ich begreife nicht.“

„Du sahst aus, als ob man Dich verurtheilt hätte.“

„Um Gottes willen! Sag’ das nicht. – Wie konntest Du es nur denken?“ Er fuhr schaudernd zusammen.

„Nun ist Alles gut. Gieb mir Deine Hand, mein guter, alter, großer Georg.“

(Fortsetzung folgt.)




E. Marlitt.

Wer an einem Freitag im März des Jahres 1866 die Königsstraße in Leipzig herunterging, den fesselte ein seltenes Straßenbild. Dort an der Ecke, wo sich das stattliche Haus der „Gartenlaube“ seit nunmehr zwei Jahren erhob, standen an Gitter gelehnt, saßen auf den Treppenstufen „Leute aus dem Volk“ und lasen eifrig die neueste, soeben erschienene Nummer des illustrirten Blattes, welches Ernst Keil mit so warmer Ueberzeugungstreue und so seltenem Geschick redigirte. Kein Wunder! konnte man denken. Es gährte damals überall in Deutschland; Kriegswolken umhingen den Himmel, und die politischen Tagesneuigkeiten wurden von Allen mit Ungeduld erwartet. Und doch war dieses Bild grundverschieden von ähnlichen Scenen, welche sich vor den Ausgabeschaltern der Tagespresse abspielen. Hier fahndete kein Neugieriger nach den neuesten Depeschen, kein Stellenloser suchte die Annoncen der Arbeitsangebote; hier lasen die Leute mit fieberhafter Spannung – die letzten Fortsetzungen eines Romans! „Goldelse“ war der Titel desselben und E. Marlitt der Name der Schriftstellerin, welche durch eine kleine Erzählung schon früher bekannt wurde, jetzt aber den ersten großen Erfolg feierte.

Oft noch in den nächsten Jahren konnte der Vorübergehende dieses Straßenbild betrachten, welches den unbefangenen Beurtheiler mehr als zehnfache Auflagen eines Werkes über die Bedeutung der Verfasserin belehrte: Die Erfolge der Marlitt in einem Volksblatte, wie die „Gartenlaube“, waren eben darum so überraschend und nachhaltig, weil sie den volksthümlichen Ton zu treffen wußte, weil ihre Schöpfungen, während sie sich auf den Salontischen der gebildeten Frauen einbürgerten, doch schlicht genug waren, um auch von dem einfachsten Manne verstanden zu werden, dabei fesselnd und spannend, von poetischen Schilderungen durchwoben, von inniger Herzenswärme durchdrungen – und von idealer Weltanschauung getragen. Diese außerordentlichen Erfolge konnten nicht verfehlen, eine besonders scharfe und nicht immer gerechte Kritik herauszufordern. Die strengste Kritik aber, wenn sie gerecht bleiben will, wird den gelungeneren Werken von E. Marlitt die obigen Eigenschaften nicht absprechen können. Man nannte sie die beliebteste Erzählerin der Frauenwelt; und es ist wahr, daß sie mehr von Frauen als von Männern gelesen wurde; aber welcher Romanschriftsteller der Gegenwart theilt nicht dasselbe Los mit E. Marlitt?

Dieser Standpunkt ist von der öffentlichen Kritik nicht genügend hervorgehoben worden, und heute, wo das Leben und Wirken von E. Marlitt abgeschlossen vor uns liegt, halten wir es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_472.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)