Seite:Die Gartenlaube (1887) 595.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

welchen der greise Meister machte, als im April 1868 seine Graner Messe in der Kirche von Saint-Eustache in Paris in seiner Anwesenheit aufgeführt wurde. „Das Schauspiel hielt nicht ganz, was ich mir davon versprochen hatte, Franz Liszt selbst zwar und die vornehmen Damen, die seinen Hofstaat bildeten, waren durchaus auf der Höhe ihrer Aufgabe und befriedigten alle Erwartungen. Allein das Publikum, welches die Kirchenschiffe füllte, ließ zu wünschen übrig und störte die Einheitlichkeit des Bildes. Franz Liszt war in Ruhe und Bewegung herrlich zu schauen; er trug ein kühn, aber glücklich erfundenes Phantasiekostüm, in welchem sich die wichtigsten Elemente des Priestertalars, des bekannten vom persischen Schah auf seinen europäischen Reisen getragenen brillantenbesetzten Waffenrockes und der Rokoko-Tanzmeistertracht klug vereinigten. Die in Kniehöschen, feinen Strümpfen und grausam zugespitzten helllackirten Schnallenschuhen steckenden Beine und Füße waren entschieden die eines Tanzmeisters. Seine Länge und die würdige Faltung der wallenden Schöße nahm der Rock vom Priestergewande; durch die mit sechsundvierzig edelsteinbesetzten Ordenssternen und Kreuzen behangene Brust (ernste Geschichtschreiber des großen Ereignisses haben sie gezählt) suchte derselbe dem Staatskleide des Schah zu gleichen. Als Liszt in die Kirche trat, empfingen ihn die Musiker mit Fanfaren und Orgelklängen. Eine Schar meist überreifer, doch kunstvoll und prächtig geschminkter Damen, keine weniger als Gräfin, stürmten ihm entgegen und bemächtigten sich seiner Hände, die er ihnen mit gnädigem Lächeln zum Handkuß überließ. Dann reichte er den beiden reichsten und am gediegensten geschmückten Damen (vielleicht sind es auch die vornehmsten gewesen) je einen Arm und schritt mit ihnen äußerst langsam und feierlich auf einen für ihn neben dem Hochaltar errichteten Thronsessel zu, während hellebardenbewaffnete Kirchendiener in Feldmarschalluniformen ihm voranzogen, die Kadenz ihrer Schritte durch Aufstoßen der Hellebarde auf das dröhnende Estrich markirend, und die Damenschar mit Verzückung in Blick und Miene ihm folgte. Liszt nickte der Menge wohlwollend zu und ließ von Zeit zu Zeit ein Wort, ohne Zweifel eine Offenbarung, zu seinen Begleiterinnen niederfallen, die zu ihm mit einem Augenaufschlag emporsahen – nein, diesen Augenaufschlag kann ich nicht schildern. Da müßte ein genialer Stift oder Pinsel der Feder zu Hilfe kommen. Der unvergleichliche Oberländer hatte vor einiger Zeit in den ‚Fliegenden Blättern‘ eine Zeichnung, die einen vegetarischen Dichter inmitten einer Versammlung gerührter Hausthiere darstellt. Die Pferde, Kühe, Schafe etc. blicken zu dem milden Sänger, der die unblutige Pflanzenkost feiert, so innig seelenvoll, so gedankentief und schwärmerisch auf, daß selbst ein Großinquisitor hierüber bis zu Thränen lachen müßte. Diesen ganz einzigen Augenaufschlag der Oberländer’schen Hausthiere habe ich bei den aristokratischen Damen in der Saint-Eustache-Kirche wiedergefunden.“

Der sarkastische Schilderer meint indeß, die Kundgebungen der unbegrenzten Verehrung hätten nicht den Eindruck der Aufrichtigkeit gemacht; jene Damen hätten auch an den Reporter hinter dem Pfeiler gedacht und an den Bericht in den Boulevardblättern. Die übrige nichtbetheiligte Menge habe die köstlichste Unabhängigkeit der Gesinnung, ein lustiges oder spöttisches Lächeln gezeigt; es seien kritische und zweifelsüchtige Kinder der zweiten Hälfte dieses rasch auskühlenden Jahrhunderts gewesen.

Wenn auch jeder übertriebene Kultus eine satirische Geißelung verdient, so ist doch die Satire zurückzuweisen, so weit sie sich gegen Liszt selbst richtet. Die Bedeutung dieses jedenfalls interessanten und geistreichen Mannes ist mit seinem Klaviervirtuosenthum nicht erschöpft; er hat auf die neueste Entwickelung der ganzen deutschen Musik einen maßgebenden Einfluß ausgeübt, edlen Sinnes neidlos für Andere gewirkt und geschafft, mit seinem Feuereifer in Wort und Schrift die Theilnahme für schöpferische Geister in tonangebenden Kreisen entzündet.

Die Herbstfrische. Die Hochsaison der Badeorte hat ihr Ende erreicht. Der Menschenstrom, welcher aus den überhitzten Stadtmauern in die frische Waldesluft oder an die Seeküsten geflüchtet war, kehrt allmählich in die Städte zurück. Mit der Sommerfrische ist es nun für dieses Jahr vorbei; aber diejenigen, welche noch der Erholung bedürfen, brauchen nicht zu denken, daß es zu spät sei, eine Erholungsreise anzutreten. Im Gegentheil! Jetzt erst beginnt die schönste Jahres- und die eigentliche Reisezeit.

Die Herbstwitterung zeichnet sich durch ihre Beständigkeit aus. Die Herbstluft ist kühl und regt zu Fußwanderungen an; sie erfrischt den Körper mehr, als dies die heiße Lust des Sommers vermag, und stärkt ihn in wunderbarer Weise gegen krankhafte Einflüsse. Das Reisen ist in den Monaten September und Oktober auch billiger als im Juli und August, wo die Hochsaisonpreise herrschen. Man hat das Alles nicht immer beachtet und bis jetzt die Vorzüge der Herbstfrische viel zu wenig gewürdigt. Die Tage sind in dieser späteren Jahreszeit nicht so kurz, wie man glaubt; man muß sie nur richtig auszunützen wissen. Im September dauert der Tag noch immer 13½–12 Stunden; im Oktober 11½–10 Stunden. Der Herbstfrischler braucht nur mit dem Sonnenaufgang ins Freie zu gehen, und er hat bis zum späten Abend den schönsten Naturgenuß; denn der Herbst trägt bei uns ein farbenprächtiges Kleid, und der buntgefärbte Wald, von goldenem Sonnenglanz durchwoben, ist nicht minder schön als der junge grüne Wald im Wonnemonat.

Gegen die kühle Witterung findet man in passender Kleidung den besten Schutz, und eine Decke und ein Ueberzieher an einem Schnallriemen tragen sich im Herbste leichter als im Hochsommer. Nur eine Gefahr birgt die Herbstfrische in sich: die langen Abende. Sie verlocken leider Viele, in den Gaststuben zu sitzen und den Tabaksqualm zu athmen; sie treiben den Herbstfrischler in allerlei gesellschaftliche Vergnügungen, welche die guten Folgen des Aufenthaltes in Wald und Feld wieder aufheben. Mit diesen Unsitten muß der Herbstfrischler brechen und lieber eine längere Nachtruhe genießen; dann wird sich der Erschöpfte im Herbst rascher und besser erholen als im Sommer. Die Herbstfrische verdient auch darum besonders gewürdigt zu werden, weil die Zahl derjenigen, welche auf sie angewiesen sind, eine sehr große ist. Gerade die Sommerhitze spannt die Meisten ab und erzeugt in ihnen das Bedürfniß einer Erholung; an viele Andere werden gerade in den Sommermonaten höhere Anforderungen gestellt, da sie ihre verreisten Kollegen vertreten müssen; nun, sie können dafür den Herbst ausnützen, und außerdem fallen ja in den Herbst die Michaelisferien, welche das Reisen den weitesten Kreisen erleichtern.

Und noch eins! Man glaube nicht, daß es gleich nöthig sei, viele Wochen auf Urlaub zu gehen, und daß ein kürzerer Aufenthalt in freier Natur nur wenig oder gar nicht nütze. Gegen die Krankheit unsrer Zeit, gegen die „Nervenschwäche“, haben sich bereits kurze Reisen aufs Land von nur wenigen Tagen Dauer sehr erfolgreich gezeigt; und gegen gewöhnliche Erschöpfung wirken sie Wunder. Nur zu wahr sind die Worte, welche der Badearzt Dr. Adams veröffentlicht hat: „Die Frühjahrsreise ist eine Art Heilmittel gegen die vom Winter gesetzten Nachtheile. Die Sommerreise ist nur eine Unterbrechung der nachtheiligen Einflüsse, eine willkommene und angenehme zeitweilige Ausspannung und Erfrischung. Richtet man aber seine Reise im Herbst ein, so gewinnt man eine wahre hygienische Vorbeugung: die Nachtheile des Sommers werden ausgeglichen und für den Winter wird neue Frische und Widerstandsfähigkeit eingeheimst.“ Darum rufen wir auch unsern Lesern zu: wer es irgend kann, wähle für seine Reise und Erholung die Herbstzeit! *

Der wirkliche Komponist der Marseillaise scheint endlich in Frankreich entdeckt worden zu sein. Es ist ein alter Kirchenkomponist, Jean Baptiste Lucien Grison, von 1775 bis 1787 Kapellmeister an der Kathedrale zu St. Omer (Pas-de-Calais). Während dieser Zeit komponirte er ein Oratorium „Esther“, Text der gleichnamigen Tragödie Racine’s entnommen, dessen erste Nummer, „Die Verleumdung“ betitelt, Note für Note die Melodie der Marseillaise zeigt. Somit ist Grison’s Komposition mindestens 5 Jahre älter als die Nationalhymne Rouget de Lisle’s, der bisher auch als Komponist seiner Strophen galt – wenn dies auch oft und mit Recht angezweifelt worden ist. Er selbst hat sich übrigens nur einmal, 1825, also erst 33 Jahre nach der Entstehung seiner Hymne, öffentlich auch als deren Komponist genannt.

An der Autorschaft Grison’s in Bezug auf die von Rouget de Lisle benutzte Melodie ist nicht zu zweifeln, da der Entdecker dieses wirklichen Komponisten der Marseillaise, Arthur Loth, in seinem vor einiger Zeit erschienenen Buche: „Le Chant de la Marseillaise et son véritable auteur“ („die Marseillaise und ihr wahrer Komponist“) zugleich den Beweis für die Wahrheit seiner Angabe antritt und die Komposition Grison’s mit allen dazu nöthigen Urkunden mittheilt. Hiermit wären denn alle anderen Ansprüche an die Autorschaft der bedeutsamen Melodie beseitigt, auch die, welche von deutscher Seite erhoben worden sind.

Diese deutschen Ansprüche wurden übrigens in erster Linie von französischer Seite veranlaßt. Sollte doch nach einer Lesart das Gedicht von J. G. Forster, die Musik von J. F. Reichardt herrühren und das Ganze später, mit deutschem und französischem Text und den oben genannten Namen versehen, bei Rellstab im Druck erschienen sein. Die deutsche Autorschaft der Marseillaisen-Melodie lag gleichsam in der Luft und der Glaube daran lebte fort. Da kam 1861 Herr Fridolin Hamma und erklärte in der Presse (siehe „Gartenlaube“, „Kölnische Zeitung“ vom 24. April 1861), die Melodie der „Marseillaise“ sei dem Credo einer Messe aus dem Jahre 1775 von einem Kapellmeister „Holtzmann“ entnommen und diese Messe befinde sich in Meersburg am Bodensee. Die Behauptung trat trotz ihrer sonstigen sich widersprechenden Angaben in der Hauptsache so bestimmt auf, indem sie zugleich einem Jeden die Möglichkeit bot, sich von ihrer Wahrheit persönlich überzeugen zu können, daß man wohl daran glauben mußte, wie sie denn auch von den verschiedensten Blättern geglaubt und den Lesern mitgetheilt wurde. Doch den Beweis für seine Angabe hat Herr Fridolin Hamma bis heute nicht erbracht, wie auch andere Wißbegierige dazu nicht im Stande gewesen sind. Jetzt wird dies wohl auch nicht mehr nothwendig sein, denn einstweilen steht es fest, daß der wirkliche Komponist und Erfinder der Marseillaisen-Melodie nicht Rouget de Lisle, sondern der alte Kapellmeister Grison in St. Omer gewesen ist.

Der Invalide von 1813. (Mit Illustration S. 581). Der ehrwürdige, mit dem Eisernen Kreuze von 1813 geschmückte Invalide der Befreiungskriege, der an der Gedenktafel seiner gefallenen Kameraden vorüberschreitet, mit ernster Wehmuth der vergangenen Zeiten sich erinnernd – er ist einer jener Tapferen, welche das Napoleonische Joch abschütteln halfen, und sein Eisernes Kreuz gemahnt uns an die Tage von Leipzig und Belle-Alliance. Wenn auch sein Körper gelähmt ist: die freien Schwingen seines Geistes sind es nicht, und das Bewußtsein, für das Vaterland gekämpft und gelitten zu haben, tröstet ihn darüber, daß er die freie Beweglichkeit verloren hat, die zum unverkümmerten Lebensgenuß gehört.

Doch neben dem Invaliden des Bildes sehen wir andere im Leben, welche auf den Schlachtfeldern des Jahres 1870 verwundet wurden, in jenen glorreichen Kämpfen, welche das Deutsche Reich begründet haben. Am Sedantage, dem Geburtstage deutscher Einheit, die in Versailles ihre Taufe empfing, gedenken wir mit Wehmuth nicht bloß der zahlreichen Opfer, die der große Krieg gekostet hat, sondern auch der Ueberlebenden, die, oft nach langem Schmerzenslager genesen, doch nie sich wieder frei mit den andern Glücklichen durchs Leben bewegen konnten. Das Vaterland schuldet ihnen seinen Dank – und Niemand wird ohne Achtung und Mitgefühl bei einem jener hochverdienten Krieger vorübergehn, denen mehr noch als das neue Eiserne Kreuz die Krücke zum Schmuck und zur Ehre gereicht, auf die gestützt sie durchs Leben wandern.

Das Pentagramm als Wirthshausschild. Unsere Leser kennen die Stelle des Goethe’schen „Faust“, wo der Drudenfuß auf der Schwelle, das Pentagramma, dem Mephisto „Pein macht“, indem es ihn am Weg gehen hindert. Das Sternfünfeck rührt bekanntlich von den Schülern des Pythagoras her, die darin das Band harmonischer Vereinigung und das Symbol der Gesundheit erblickten. Die Figur zeigt auf überraschende Weise das Verhältniß des „goldenen Schnittes“, welches darauf beruht,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1887, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_595.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)