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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Gönner zähle. Gewiß ist, daß kein Angehöriger der niederen Camorra alle Fäden kennt, die durch seine Hände laufen; ein Jeder sieht nur, was unmittelbar über ihm und was unter ihm steht.

Die Bedeutung eines solchen Chefs, der keine geschriebenen Gesetze zur Seite hat, hängt einzig und allein von der Gewalt seiner Persönlichkeit ab. Ein gewisser großer Stil ist für ihn unerläßlich, und er muß jeden Augenblick bereit sein, eine Meuterei niederzuwerfen und sich allein zwischen die Messer aller seiner Kameraden zu stürzen. Eine Fülle von Ringen und Schaustücken aller Art, worunter der breite Messingreif am Mittelfinger nicht fehlen darf, kennzeichnet ein Haupt der Camorra. Seine amtlichen Funktionen sind jedoch ziemlich beschränkt; jede wichtige Entscheidung muß dem Rath vorgelegt werden, in welchem jeder Camorrist eine Stimme hat. Noch unlängst brachten die italienischen Journale eine Reihe neuer Enthüllungen über die Camorra, aus denen hervorgeht, daß über den gewöhnlichen Versammlungen innerhalb der „paranza“ noch eine höhere Instanz steht, das große Tribunal oder die „gran mamma“, wie die officielle Bezeichnung der Camorristen lautet. Neapel besäße demnach im Augenblick drei solcher großen Tribunale, deren Jurisdiktion je ein Drittel der Stadt umfaßt. Diese Tribunale haben über die schwereren Vergehen der Mitglieder der Camorra zu richten und treten – vielleicht um den Schreck, der von ihnen ausgeht, zu vermehren – mit Vorliebe am Freitag zusammen.

Der Präsident heißt „u prence e testa d’oro“[1]; er thront auf einem großen Faß, während die andern richterlichen Sitze durch kleinere Fässer dargestellt sind. Meist figurirt ein altes Weib „a spagara“ als Staatsanwalt; sie hält einen langen Bindfaden (spago) mit den Zähnen, den sie während der ganzen Verhandlung beständig zwischen den Fingern durchzieht, wie um symbolisch das Abspinnen des Processes darzustellen, und mag bei dieser Beschäftigung recht einer Parze gleichen. Ist der Beklagte ein „Picciotto“, so hat er das Recht, bei dem Proceß anwesend zu sein und sich zu vertheidigen, während der „giovane onorato“ stets von den Verhandlungen ausgeschlossen bleibt. Von der Justiz der Camorra und der Willigkeit, mit der ihre Sentenzen vollzogen und erlitten werden, soll späterhin die Rede sein.

Am Sonntag wird unter den Mitgliedern jeder Sektion mit größter Gewissenhaftigkeit der „barattolo“ oder die „camorra“ vertheilt; so heißt nämlich außer der Genossenschaft im Allgemeinen insbesondere noch der die Woche über eingegangene Betrag an Steuern wie aller sonstige Erwerb. Ein Rechnungsbeamter, welcher „contarulo“ heißt, hält die Kasse und führt sorgfältig Buch über das Soll und Haben jedes Mitgliedes. Außerdem steht dem Chef, der häufig mit der Feder nicht sehr vertraut ist, noch ein Sekretär für seine Korrespondenz zur Seite, welcher nicht gerade der Camorra aktiv anzugehören braucht, ihr aber als Mitwisser ihrer delikatesten Geheimnisse Treue und Verschwiegenheit gelobt hat und eine Indiskretion mit dem Leben bezahlen würde.

Den schon angeführten Beispielen aus der Gaunersprache der Camorristen mögen hier noch einige der originellsten folgen. Ihr unzertrennlicher Gefährte, das lange breitgeschliffene, im Griff feststehende Messer heißt sehr euphemistisch „misericordia“, der Revolver „tic-tac“; einen Getödteten nennen sie „dormente“ (Schläfer), einen Bestohlenen „agnello“ (Schaf), einen gestohlenen Gegenstand „il morto“ (der Todte). Ein Oberhaupt der Camorra wird sehr respektvoll „masto“ (Meister) oder „capo-masto“ angeredet, der einfache Camorrist schlechtweg „compagno“ oder „si“ (Abkürzung von signore).

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Hängende Fäden.

Erzählung von A. Godin.
(Schluß.)

Tiefes Dunkel lag über der tausendjährigen Stadt und ließ kaum die Umrisse ihrer seltsamen Häuser unterscheiden, deren viele noch heute die Signatur ihrer Zeiten tragen, jener Zeiten, wo Auftraggeber wie Baumeister dem erwählten Schnitzwerk in Holz oder Stein gleichsam ihre innersten Gedanken aufprägten – Häuser, von denen manche sich ganz träumerisch vornüber neigen und auf den durch den Mittelbau laufenden Balken die wundersamsten Erfindungen zeigen, deren mittelalterliche Holzarchitektur hier den Charakter der Gothik streng festhält, während dort reich ornamentirter Steinbau späterer Zeit an den Portalen und unteren Stockwerken durch Motive der Renaissance die Aufmerksamkeit fesselt.

Von Alledem ließ sich in dieser Stunde zwischen elf Uhr[WS 1] und Mitternacht nichts erkennen. Zwar brannten alle Gaslaternen der Stadt; doch waren sie mit schwarzem Flor umgeben, der den verhüllten Flammen etwas Melancholisches verlieh, als wären sie heute nur da, um das Dunkel zu zeigen, das zu erhellen sonst ihre Bestimmung war.

Auch durch die Fenster der Häuserreihen drang nur gedämpftes Licht; sie waren dicht mit Menschen besetzt, deren Gestalten sich wie Schatten zeichneten, während die zahllose Menge, welche auf den Straßen Spalier bildete, als dunkle ununterscheidbare Masse erschien, wogend wie die Wellen eines eingedämmten Sees. Berittene Schutzleute hielten die Mitte der Straßen frei. Das Schweigen gespannter Erwartung lag gleich einem Bann über all den Tausenden; man vernahm nur kurzes, rasch abgebrochenes Flüstern, das mit den langsamen Hufschlägen dann und wann zusammenklang. Da schlug es Mitternacht von den Thürmen, und plötzlich ertönte ein militärisches Signal scharf und deutlich durch die Stille – nur wenige Takte, aber so schmetternd, daß ein Murmeln des Schauers über die Menge lief. Im nächsten Moment tönte eine Kanonensalve, und gleichzeitig begann es hoch in Lüften zu tönen – alle Glocken der Stadt regten ihre ehernen Stimmen.

Der Todeszug hatte sich in Bewegung gesetzt und nahm vom Bahnhofe aus seinen langsam vorschreitenden Weg nach dem Schlosse, umgeben von Nacht und Schweigen. Wie Gespenster, schattenhaft, ohne erkennbaren Umriß, zog das zahlreiche Geleite voran, bis schwacher Silber- und Fackelschimmer ein erschütterndes Bild in das Dunkel zeichnete. Auf hohem, silbernem, mit sechs Schimmeln bespanntem Wagen ruhte der Sarg, welcher Herzog Wilhelm’s sterbliche Hülle umschloß; zur Rechten und Linken ritt eine Reihe von Fackelträgern, deren flackernde Leuchten die breiten Silberflächen erschimmern ließen und die Kontouren der tief niederhängenden Trauerdecken der Pferde scharf hervorhoben. Und während diese düster feierliche Gruppe sich zwischen all den lautlosen entblößten Häuptern vorwärts bewegte, hallten unablässig die mächtigen Glocken, als sei die Luft in Schall verwandelt, als müßten diese erschütternden Laute nun in alle Ewigkeit so weitertönen.

Die Menge stand in feierlichem Schweigen – die Empfindung bemächtigte sich aller Gemüther, daß das Herrschergeschlecht, unter dessen Fürsten Glück und Wohlfahrt des Volkes sich steigend entwickelt hatten, erloschen war mit dem stillen Manne, den das von drei ruhmreichen Generationen seiner Väter bewohnte Schloß jetzt zum letzten Male beherbergen sollte. Noch lag die Zukunft des Landes verschleiert im Schoße dieser düstern Nacht.

Nur ein Bauwerk der Stadt stand glänzend erleuchtet: der Dom Heinrich’s des Löwen. Der goldene Lichtschein, welcher durch die hohen Fenster brach, warf schwache Reflexe auf die Krone der von diesem Fürsten gepflanzten Linde, auf den Löwen von Erz, welcher seit nahezu achthundert Jahren seinen Standpunkt auf hohem Sockel behauptet, und streifte die Mauerreste des herzoglichen Stammschlosses Dankwarderode.

Hier, auf dem Burgplatze, erwartete Major von Rüttiger mit seinen Kindern das Herannahen des Zuges unter dem Thorwege eines hochgiebeligen Hauses, dessen vorspringendes erstes Stockwerk und säulengeschmücktes Erdgeschoß hohes Alter verrieth. Es war dem raschen Soldatenblick geglückt, noch rechtzeitig eine der Stufen zu erobern, die zum Eingang hinaufführten. So stand er mit den Seinen rückenfrei und günstig.


  1. Gekröntes Haupt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Uhr Uhr
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_623.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2023)