Seite:Die Gartenlaube (1887) 676.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Mit dem Fuße meines Gefährten mochte es wohl nicht zum Besten bestellt sein; doch war ich berechtigt, aus verschiedenen Anzeichen zu schließen, daß es hauptsächlich seine Wehleidigkeit war, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke stehen zu bleiben und zu klagen. Der Weg, der sich bald an nicht sehr geneigten Felswänden hinzog, bald steilere, trümmererfüllte Rinnen durchkrenzte, bald über blasiges, krustiges Eis des Gletschers führte, war nicht allzu anstrengend. Trotzdem stöhnte und jammerte mein Begleiter, nicht über seinen Fuß, sondern über die Gefahren und Schrecknisse, von denen er sich umgeben glaubte. Wenn er aus der Ferne in das dämmerige Blaugrün einer Eisspalte hinabschauen mußte, so stieß er Rufe des Entsetzens aus, als ob er schon mitten darinnen läge. Manchmal erklärte er plötzlich, nicht weiter gehen zu wollen. Ich mußte dann alle Vernunftgründe aufbieten und ihm zusprechen. Kurzum, wir kamen nicht vorwärts.

Mittlerweile konnte ich mir jedoch selbst nicht mehr verhehlen, daß unsere Lage zu allerlei Befürchtungen Anlaß geben mochte. Schon färbte sich der Gipfel zu unserer Linken, dem mein Reiseplan gegolten hatte, mit der tiefrothen Gluth der sinkenden Sonne, und wir befanden uns noch immer in der Eisregion, ja wir hatten noch nicht einmal die Paßhöhe erreicht, welche überdies, soviel ich wußte, nur durch einen sehr steilen Kamin erreicht werden konnte. Der Führer hatte zwar (und das war das einzige Zeichen von Sorgsamkeit, das ich an ihm bis jetzt wahrnahm), in Voraussicht, daß wir in die Nacht hineinkommen würden, eine Laterne mitgenommen. Aber was konnte uns die auf solchem Boden nützen?

Das Einzige, was mir einige Zuversicht einflößte, war die Klarheit des Himmels. Da vor einigen Tagen Vollmond eingetreten war, so konnte ich hoffen, daß das Licht dieses Gestirnes hinreichen würde, uns jenseit des Joches bis zu einer bewohnten Stätte zu geleiten.

Ich beschloß deßhalb, als es zu dunkeln begann, in ganz geringer Entfernung vom Kamin, der zum Joch hinaufführte, eine Raststätte aufzusuchen und dort so lange zu warten, bis der Mond aufgegangen sein würde.

Es giebt nicht leicht ein Ungemach, das nicht auch seine Lichtseite hätte. Wäre ich nicht von dem Genossen begleitet gewesen, durch dessen Unbeholfenheit mein Gang um Stunden verzögert wurde, so hätte ich die wundervollen Schaustücke dieses Abends wohl niemals erlebt.

Es wurden wenige Worte gewechselt, während wir in der eisigen Wüste auf unserem Rastplatze saßen oder mitunter, um die Kälte abzuwehren, auf und ab gingen.

Hier und dort sahen wir eine Schwalbe oder einen andern Zugvogel, der schon vor Wochen beim Flug über den Paß erfroren war, auf dem Eise liegen. Nichts regte sich. Wir hörten nur das Summen der Wasser, welche noch unter der Nachwirkung der Tageshitze reichlicher aus den Eisthoren des Gletschers abflossen, und manchmal das Dröhnen von Felsblöcken, welche aus den steilen Kaminen niederstürzten. Diese Stürze wurden offenbar durch geringfügige Aenderungen im Umfange der Körper, welche die plötzliche Erniedrigung der Wärme bewirkte, verursacht. Wir wohnten geheimnißvollen Auftritten im Innersten der Naturwerkstätte bei, Auftritten, durch welche die Oberfläche der Erde im Laufe ungemessener Zeiten umgestaltet wird.

Plötzlich schien es mir, als schöben sich finstere, furchtbare Riesengestalten über das noch mattblinkende Eis hinweg. Zugleich donnerte es aus verschiedenen Klüftungen heraus, als ob Hunderte von Kanonen ihren Kampf gegen einander begonnen hätten. Die alten Frostriesen waren über die Welt gekommen und Thor suchte sie mit seinem Hammer zu zerschmettern.

Die Oberfläche des Gletschers wurde goldflüssig im Lichte des eben aufgegangenen Mondes. Die Riesen aber, das waren die Schatten der Zacken, die sich über den starren Eisstrom hinzustrecken und zu regen begannen. Sie blieben nicht stätig. Wenn die Mondscheibe hinter einen Felskamm trat, verschwanden sie ins Reich ihrer heimathlichen Finsterniß, um alsbald mit den aufs Neue hervorbrechenden Strahlenfluthen sich wieder hervorzuwagen.

Wenn ich, um das Alles näher zu betrachten, weiter gegen die beleuchteten Stellen vorschritt, sah ich mich mit meinem Schatten den Riesen beigesellt. Langsam rückten wir schwarze Gestalten alle vor gegen das Eis und die Moränenblöcke hin – eine wunderliche Gesellschaft im Wandelspiele der Welt.

Nunmehr war es Zeit, an die Fortsetzung unserer Reise zu denken.

(Schluß folgt.)




Unsere Schulprüfungen.

Wenn wir uns in unsere Kinderjahre zurückversetzen, so spielt gewiß in den Erinnerungen an dieselben die Schule eine große Rolle. Die Meisten denken gern an ihre Schulzeit zurück, an Lehrer und Mitschüler, an die heiteren und ernsten Erlebnisse jener Jahre. Da tauchen auch die Tage vor uns auf, an denen wir Examen hatten. Wie klopften die kleinen Herzen in banger Erwartung der kommenden Dinge, wie jubelten wir, wenn Alles gut gegangen war! Waren nun gar Vater und Mutter zugegen, so wurde der Examentag der feierlichste Tag des ganzen Jahres. Die Schule der Gegenwart ist aber eine andere als die der Vergangenheit. Wie Alles fortschreitet, so auch die Schule, und manche frühere Einrichtungen sind verschwunden und haben besseren Platz machen müssen. Leider verschwindet auch der familiäre Zug, welcher der alten Schule eigen war, mehr und mehr. Die Ursache davon liegt vorzugsweise in unsern socialen Verhältnissen, besonders in dem gewaltigen Wachsen der größeren Ortschaften. Es geht nicht anders, als daß in den großen Schulkasernen unserer Städte auch straffe, militärische Zucht herrschen muß. Lehrer und Schüler aber stehen sich fremder gegenüber als in der früheren Zeit. Wie ist dies auch anders möglich, wenn ein Kind während seiner Schulzeit ein Dutzend Lehrer hat? Selbstverständlich werden auch die Beziehungen zwischen Schule und Haus immer schwächer. Ist es doch in großen Städten kaum möglich, daß die Eltern die sämmtlichen Lehrer ihrer Kinder kennen lernen! Die Zahl derselben ist zu groß, der Wechsel – alle Jahre ein anderer Lehrer – zu häufig. Um so mehr müssen daher die wenigen Berührungspunkte, die Schule und Haus noch mit einander haben, beachtet und gepflegt werden.

Eins der wichtigsten dieser Bänder ist die bereits erwähnte öffentliche Schulprüfung. Und gerade hierüber ist jetzt ein lebhafter Streit entstanden. Eine große Zahl Lehrer hält es für besser, wenn diese Prüfungen ganz beseitigt werden; andere wollen sie beibehalten wissen, denselben aber eine zeitgemäße Form geben. Auf der letzten deutschen allgemeinen Lehrerversammlung in Gotha entschied sich der größere Theil der Lehrer für Wegfall der bisherigen öffentlichen Schulprüfungen. Hier müssen aber auch die Eltern gehört werden.

Aus welchen Gründen will man eine so alte Einrichtung beseitigen?

Man sagt, die öffentlichen Schulprüfungen haben sich überlebt, sie seien zu einer Art Schaustellung herabgesunken, durch welche die Würde der Schule nicht gehoben, sondern eher geschädigt würde. In einer so kurzen Spanne Zeit sei es unmöglich, dem weiteren Publikum auch nur annähernd einen entsprechenden Begriff von der Schwierigkeit der wirklichen Schularbeit zu geben. Alles gehe da so flott, daß es für den Laien den Anschein gewinnen müsse, als sei das Schulehalten etwas sehr Leichtes und Unterhaltendes. Auch für die Leistungen der Schüler seien die Prüfungen nicht maßgebend, da die Censuren vom Ausfall derselben nicht abhängig gemacht würden. Mancher Vater, manche Mutter hören ihr Kind recht hübsch antworten und wundern sich nachher über die ungünstige Censur. Das führe zu Verstimmungen und Mißhelligkeiten zwischen Schule und Haus. Manche Eltern wären sogar der Meinung, die Prüfungen seien nur dazu da, um ein Urtheil über den Lehrer zu gewinnen, und befähigten nun den Zuhörer, in allen Schulangelegenheiten ein verdtändnißvolles Wort mitreden zu können. Eitle Mütter erblickten auch in den Schulprüfungen eine erwünschte Gelegenheit, die lieben Kinder, namentlich die Mädchen, hübsch herausputzen zu können, und das gebe wieder Veranlassung zu Klatschereien und Zänkereien, wecke in den Herzen der Kinder Neid und Selbstsucht und schüre in bedenklicher Weise den Klassenhaß.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_676.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)