Seite:Die Gartenlaube (1888) 107.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Aus der Reichshauptstadt.
1. Im Herzen von Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer.

Denkmal des Großen Kurfürsten. Blick zur Kurfürstenbrücke. Das Königliche Schloß.

Die Menge von Fremden, welche in Berlin Einkehr hält und vor allem einen äußeren Eindruck des Lebens und Treibens in der neuen deutschen Kaiserstadt gewinnen will, sucht sicherlich zunächst die „Linden“ und die sie begrenzenden Straßentheile auf: Hier geht von früh bis spät der öffentliche Pulsschlag der so schnell zu Ruhm und Glanz gelangten Residenz am erregtesten; hier tritt, selbst während der Nacht, nur selten eine Ruhepause ein; hier scheint sich alles vereinigt zu haben, was einer modernen großen Stadt Ansehen und Prunk verleiht. Die „Linden“ sind in der Erinnerung schon untrennbar mit Berlin verknüpft; sie bilden mit ihrer näheren Umgebung das eigentliche Herz unserer Kaiserstadt, ihren Hauptnerv. Nicht nur aber für die Fremden allein, am meisten für die Berliner selbst! Mit einem unverkennbaren Gefühl des Stolzes spricht der geborene Spree-Athener von „seinen Linden“; den Inbegriff aller Vornehmheit und alles Aparten bildet für ihn diese Straße, der in seinen Augen ganz etwas Besonderes anzuhaften scheint, welcher er gar nichts Anderes an die Seite stellen kann. Und das neue Berlin hat doch noch andere hübsche und sehenswerthe Theile genug – die Leipziger-, die Friedrich-, die Wilhelmsstraße, aber nein, sie sind doch so ganz anders, es sind eben nicht die „Linden“, es sind nicht „unsere Linden“, deren Front das Heim des greisen Kaisers birgt, deren Paläste unsere siegreichen Krieger heimkehren sahen, deren Giebel an den hervorragenden Fest- und Freudentagen des deutschen Volkes in ein einziges weites, buntfarbiges Flaggen- und Fahnenmeer eingehüllt sind.

Dieser Berlin repräsentirende Charakter der Linden zeigt sich denn auch deutlich in ihrem äußeren Gewande, in dem täglich wiederkehrenden Bilde, welches sie uns gewähren, einem Bilde, voll Abwechslung, voll heiterer Mannigfaltigkeit und reizvoller Kontraste. Wenn die Sonne mit einem Flammenschleier die Siegesgöttin auf dem Brandenburger Thore umstrahlt, wenn in den blüthenbesäeten Zweigen der Lindenbäume, welche die Mittelpromenade einsäumen, die Spatzen lärmreiche Konferenzen abhalten und unten auf dem Erdboden sich jubelnde Kinderscharen umhertummeln, oder auch im Winter, wenn silberner Reif die Aeste und Stämme überzogen hat und von allen Seiten her lustiges Schlittengeläut erschallt: dann sind die Glanztage dieser vornehmsten Berliner Straße gekommen und sie zeigt sich alsdann würdig ihres Rufes. Wohin der Blick fällt, er trifft auf Bewegung, auf ein fortwährendes Hin und Her, ein stetes Durcheinander; die Trottoirs sind überfüllt, langsam nur schreitet man vorwärts; hier stehen Neugierige an den verlockend ausgeputzten Schaufenstern der Läden, dort treffen sich einige Bekannte und bleiben in kleinen Gruppen stehen; da werden mehrere Provinzialen von dem sie begleitenden kenntnißreichen Cicerone auf diese oder jene Berühmtheit, einen Minister, einen General, einen Künstler, eine gefeierte Sängerin aufmerksam gemacht und schauen den Vielgenannten mit Interesse nach; alle Klassen und Stände findet man vertreten; neben dem eleganten Bummler, der den hochmodern geformten Cylinder keck zurückgesetzt hat, sieht man

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1888, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_107.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)