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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

gemacht, hätte athmen dürfen – dieses Weib wagte, noch an den Frieden des Sterbebettes zu rühren?

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ sagte der Herzog erschüttert. Und er nahm die Briefe und warf sie in den Kamin, und jene andern Papiere warf er ebenfalls nach. Unwillkürlich wischte er sich hinterher die Finger an dem Batisttuch. „Lassen Sie den Schuft laufen, Herr von Schmidt,“ sagte er dann verächtlich und machte eine liebenswürdige verabschiedende Bewegung zu dem Polizeidirektor.

Der Herzog ging, nachdem jener sich entfernt hatte, sehr erregt im Zimmer auf und ab. Einer der Briefe, ein kleines Billet, war da liegen geblieben vor dem Kamin; der Herzog bemerkte es erst nach einer Weile und hob es auf. Es war Herrn von Palmers wohlbekannte Handschrift.

„Gestern Abend,“ las er, „habe ich der schönen Claudine ein Billet des Herzogs überreichen müssen; ich stahl es ihr, als ich ihr beim Einsteigen half. Anbei übergebe ich Ihrem eminenten Dispositionstalent das werthvolle Blättchen zu beliebiger Verwendung. Nun, mein Schätzchen wird die Mine so geschickt zu legen wissen, daß die kluge, uns beiden so freundlich gesinnte Dame in die Luft fliegt –“

„Also Palmer auch schuldig hierin!“ Er lächelte bitter und dachte an das heißblütige dunkeläugige Geschöpfchen, dem man die Zündschnur zu dieser Mine in die Hand gab. Die Mine war explodirt, das erste Opfer lag da drüben und – die Verbrecher waren entkommen.

Dieser schlaue Mensch hatte sich wenigstens vorgesehen, hatte verstanden zu betrügen mit lächelnder Natürlichkeit, wie es bis jetzt noch an keinem Hofe vorgekommen sein mochte. Es war kein Bediensteter unter dem gesammten Personal des Hofhaltes, der nicht rückständige Gage zu fordern hatte; kein Hoflieferant, welcher Art es sei, der seit zwei Jahren einen Pfennig bekommen. Die Beamten des Herzogs hatten alle Hände voll zu thun, um zu erfahren, bei wem er etwas schuldig war. Im herzoglichen Rentamt drängten sich die Leute mit Forderungen, nachdem die Flucht Palmers bekannt geworden. Der Herzog mußte zornig lachen, als er die Details erfuhr.

Die in Geldsachen sehr peinliche Herzogin-Mutter war darüber empört, einen Landauer zum zweiten Male bezahlen zu müssen, und ertrug dennoch nur mit Mühe den Gedanken, daß sie in eben diesem Wagen ganz ruhig an dem Hause des Fabrikaten vorüber gefahren sei, der so oft unterthänige Mahnbriefe an Palmer geschickt hatte. Die ganze Residenz war außer sich und wünschte dem Entkommenen Zuchthaus und Galgen; aber so schlaue Vögel entwischen in der Regel.

Claudine erfuhr dies alles durch die Zofe; es erregte kaum flüchtig ihr Interesse. Sie dachte nur an das, was das Heute ihr bringen würde, an die Entscheidung ihres Schicksals. Die Nachrichten über das Befinden der Herzogin lauteten nicht schlechter; sie hatte verschiedene Stunden geschlafen, aber noch nicht die Gegenwart der Freundin gewünscht.

Claudine stand am Fenster und sah hinaus in den grauen Novemberhimmel. Es schneite noch immer; so düster lag die Welt vor ihren Blicken, so todt, und drückte ihr bekümmertes Herz noch tiefer nieder. Eine dunkle Röthe überzog plötzlich ihr Antlitz. – Ein Wagen rollte in den Hof und hielt vor dem Portal des Flügels, den die Herzogin bewohnte. Da ihr Zimmer in dem Mittelbau lag, in dem die Prachträume sich befanden, konnte sie deutlich sehen, wer dem Wagen entstieg und das Schloß betrat. Er war es; eben verschwand Lothars hohe Gestalt hinter den spiegelnden Glasscheiben der inneren Thür. Er kam, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen!

Sie mußte sich fest aufstützen, so stürmte es auf ihre Seele ein; was wollte der thörichte Hoffnungsstrahl noch immer in ihrer gequälten Seele? Jedes Wort, das sie von ihm gehört, seitdem sie sich zum ersten Male wiedersahen im Neuhäuser Garten, seit dem Tage, wo sie herüber gekommen, um Beate von dem Wachsfunde zu benachrichtigen, war verwundend gewesen, scharf wie ein geschliffener Stahl. Er hatte ihr Mißtrauen und Nichtachtung gezeigt, wo er gekonnt; er liebte sie nicht, nein, nein! – Einmal, einmal hatte ihr Herz thöricht in Wonne geklopft, das war in jener dunklen Sommernacht, als er daher geritten kam, um nach ihrem Fenster zu lauschen – einen Augenblick, einen einzigen süßen herzverwirrenden Augenblick. Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße; es war eine militärische Angewohnheit von ihm; er revidirte, ob auch alles in Ordnung – die Familienehre auch nicht in Gefahr!

Sie wandte sich vom Fenster weg und ging zu dem Tische, auf dem noch das Frühstück stand. Sie ergriff die winzige Karaffe, mit Sherry gefüllt, und goß sich ein halbes Glas ein; sie liebte diesen Wein sonst nicht, sie fühlte sich nur so erbarmungswerth schwach in diesem Augenblick. Ein leises Klopfen an die Thür ließ sie das Glas hinsetzen, noch ehe sie es ausgetrunken. „Herein!“ sagte sie so tonlos, daß der Außenstehende es unmöglich hören konnte. Aber Frau von Katzenstein öffnete trotzdem die Thür und kam freundlichernst über die Schwelle. Sie hielt ein Körbchen, mit weißem Seidenpapier verdeckt, in der Hand.

„Meine liebe Gerold,“ sagte sie herzlich, „Ihre Hoheit beauftragt mich soeben, Ihnen dieses zu überreichen.“ Sie stellte den Korb auf einen Seitentisch und trat Claudine näher. „Die Herzogin erwartet Sie in einer halben Stunde,“ fügte sie hinzu und drückte dem Mädchen die Hand. „Verzeihen Sie nur, wenn ich mich nicht verweile, ich kann die Kranke eben nicht lange verlassen.“

„Wie geht es ihr?“ brachte Claudine über die zitternden Lippen.

„Sie klagt heute nicht; sie sagt, es sei ihr leichter und freier auf der Brust,“ erwiderte die alte Dame, die noch athemlos vom Treppensteigen war.

„O, und Sie bemühten sich selbst,“ sprach Claudine zerstreut; aber Frau von Katzenstein ging schon wieder zur Thür hinaus.

Claudine dachte kaum an das Körbchen. In einer halben Stunde sollte sie erfahren, ob er ihren Ring genommen – man würde ihr doch die Wahrheit sagen?

Sie begann unruhig umher zu wandern, obgleich die Füße sie kaum trugen. Dann trat sie ans Fenster; die Wache hatte „Heraus!“ gerufen; der Herzog fuhr eben im Jagdschlitten über den Schloßhof; zwei andere Schlitten folgten; er suchte wohl dem Aerger und der Sorge zu entfliehen? Auch sie fühlte den Drang, hinunter zu laufen in den Park und in der Schneeluft die heiße Stirn zu kühlen, sich müde zu gehen, Schlaf und Vergessen zu finden. Mechanisch war sie vor dem Körbchen stehen geblieben, das die Herzogin ihr geschickt; ein Reisegeschenk vermutlich – die hohe Frau versäumte ja nie, Freude zu bereiten.

Sie hob das Papier ein wenig auf; in einigen Minuten mußte sie hinunter, sich zu bedanken; man wollte doch wissen wofür? In dem mit hellblauer Seide gefütterten Körbchen lag auf kostbarem echten Spitzengewebe ein Zweig blühender Myrthe, und dieser Myrthenzweig war durch ihren Verlobungsring gezogen. –

Das bleiche, heftig athmende Mädchen befand sich plötzlich auf der Treppe; sie durcheilte die Korridore, und erst im Vorzimmer der Herzogin fühlte sie, daß sie die Füße nicht mehr tragen wollten. Dort stand der Medizinalrath und flüsterte mit Frau von Katzenstein. Die alte Dame deutete mit der Hand auf eines der Nebenzimmer und legte den Finger auf den Mund. „Hoheit schlafen eben ein wenig,“ sprach sie leise.

(Schluß folgt.)




Aus dem Leben Ludwigs I. von Bayern.

Einem berühmten Verstorbenen gerechtzuwerden, vermögen seine eigenen Zeitgenossen am wenigsten. Räumliche wie geistige Größe erfordert zur richtigen Betrachtung eine gewisse Distanz, und erst nach Jahrzehnten erreicht das Bild eines großen Todten die ruhigen, unverzerrten Linien, die der Nachwelt dann als die bleibenden erscheinen. Ob für den „teutschen“ König Ludwig, der bei Lebzeiten ebenso erbitterte Gegner wie bewundernde Verehrer besaß, diese Zeit ruhiger Betrachtung schon gekommen ist, mögen diejenigen entscheiden, welche berufen sind, ein umfassendes Bild seiner Regierung, seiner politischen und künstlerischen Bestrebungen zu zeichnen. Hier sollen die nachfolgenden Züge, die sämmtlich aus besten Quellen geschöpft sind, dazu dienen, das persönliche Gedächtniß des Fürsten aufzufrischen, der ein merkwürdiger und eigenartiger Mensch war, auch wenn man alles wegdenkt, was die Gunst des Schicksals und die Schmeichelei der Menschen seiner Erscheinung äußerlich hinzugefügt haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_400.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2020)