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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

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Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Wolfgangs äußere Erscheinung hatte entschieden noch gewonnen in den letzten drei Jahren; die Züge waren noch fester, männlicher geworden, die Haltung stolzer und energischer. Der junge Mann, der damals den ersten Fuß auf die Stufenleiter setzte, die ihn emporführen sollte, hatte es gelernt, zu steigen und zu befehlen: das sah man, aber trotzdem hatte das Selbstbewußtsein, das sich in seinem ganzen Auftreten kundgab, nichts Verletzendes; man empfing unwillkürlich den Eindruck, daß hier eine überlegene Natur das ihr zustehende Recht in Anspruch nahm.

Er hielt einen duftenden Blumenstrauß in der Hand, den er mit einigen artigen Worten der jungen Dame des Hauses übergab. Eine gegenseitige Vorstellung war nicht notwendig; denn Gersdorf hatte schon öfter mit dem Oberingenieur verkehrt, und Wally kannte ihn von Heilborn her, wo sie im vergangenen Sommer mit ihren Eltern gewesen war. Man plauderte eine Weile, blieb aber nicht lange beisammen; der Doktor ergriff die erste Gelegenheit sich zu empfehlen, und zehn Minuten später brach auch Wally auf. Sie wäre zwar gern noch geblieben, um ihr Herz gegen Alice auszuschütten, aber dieser Herr Elmhorst schien fürs erste nicht weichen zu wollen; trotz all seiner Artigkeit fühlte die kleine Baroneß doch, daß er ihre Anwesenheit als sehr überflüssig betrachtete; sie verabschiedete sich daher gleichfalls, aber draußen im Vorzimmer legte sie den Finger an das zierliche Näschen und sagte weisheitsvoll:

„Ich glaube – da drinnen entwickelt sich etwas!“

Sie mochte nicht unrecht haben, aber vorläufig ließ diese Entwicklung noch auf sich warten.

Alice hielt den prachtvollen Strauß von Kamelien und Veilchen in der Hand und athmete deren Duft ein, aber sie sah sehr gleichgültig dabei aus. Die reiche Erbin, die stets der Gegenstand allseitiger Bemühungen und Aufmerksamkeiten war, wurde mit Blumengaben überschüttet von allen Seiten; sie schien auch auf diese Artigkeit kein besonderes Gewicht zu legen. Wolfgang hatte ihr gegenüber Platz genommen und unterhielt sie in seiner lebhaften, anregenden Weise; er sprach augenblicklich von der neuen Villa, welche Nordheim im Gebirge hatte erbauen lassen und welche die Familie in diesem Sommer zum ersten Male bewohnen sollte.

„Bis zu Ihrer Ankunft wird auch die innere Einrichtung vollendet sein,“ sagte er. „Das Haus selbst war schon im Herbste fertig und die Nähe der Bahnlinie machte es mir möglich, alles persönlich zu überwachen und zu leiten. Sie werden sich bald genug an den Gebirgsaufenthalt gewöhnen, gnädiges Fräulein.“

„Ich kenne ihn ja bereits,“ erwiderte Alice, noch immer mit den Blumen beschäftigt. „Wir sind regelmäßig im Sommer in Heilborn gewesen.“

„In der großen Sommerpromenade der Residenz, mit einer Alpenlandschaft im Hintergrunde!“ spottete Elmhorst. „Das sind nicht die Berge; die werden Sie erst in Ihrem neuen Heim kennen lernen; die Lage ist herrlich, und ich schmeichle mir mit der Hoffnung, daß auch dies Heim selbst Ihnen gefallen wird, mein Fräulein. Es ist freilich nur eine einfache Villa im Gebirgsstil, aber das war mir ausdrücklich vorgeschrieben.“

„Papa meint, es sei ein kleines Meisterwerk der Baukunst,“ bemerkte Alice ruhig.


Wilhelm Raabe.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_469.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)