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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


Mein Kind.


Schnell sind die Jahre vergangen –
Doch denk’ ich der bangen Nacht,
Als Du, jubelnd empfangen,
Zum Leben einst erwacht;

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Mit freudezitterndem Munde

Küßt’ ich Dich inniglich
Und sprach aus Herzensgrunde:
Mein Kind, Gott segne Dich!

Festlich die Glocken erklangen,

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Es schmückte Dein Haupt der Kranz;

Hoch glühten Deine Wangen,
Feucht war des Auges Glanz.
Eng hielt ich Dich noch umschlungen,
Und Wehmut mich beschlich;

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Schwer hat sich’s mir entrungen:

Mein Kind, Gott segne Dich!


Schon lange bist Du geschieden,
Und ich blieb sehnend zurück;
In Deines Hauses Frieden

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Wiegst Du Dein schönstes Glück;

Doch ob Dein Leben und Lieben
Sucht neue Bahnen sich,
Du bist mir doch geblieben:
Mein Kind, Gott segne Dich!

Albert Traeger




Wilhelm Raabe.
Von Wilhelm Goldbaum.


Das ist nun auch wieder schon dreißig Jahre her, seitdem ich die „Chronik der Sperlingsgasse“ gelesen. Man kommt sich so alt vor, wenn die Erinnerung bereits mit solchen Ziffern arbeitet, und der Dichter erscheint einem beinahe wie ein Rübezahl mit wallendem weißen Barte und bemoostem Stabe in der Hand, obwohl er ganz und gar noch zu den modernsten Erzählern gehört, ungeschwächt an Kraft der Erfindung und Darstellung. Damals – vor dreißig Jahren – nannte er sich Jakob Corvinus, vermuthlich, weil er als Neuling erst ungekannt seine Flügel erproben wollte, und als ihm der erste, der zweite, der dritte Flug vortrefflich gelungen war, da kam allmählich sein wahrer, nicht latinisirter Name Wilhelm Raabe zu Tage. Ich weiß nicht genau, wann es zum ersten Male geschah, daß der Poet seine Maske lüftete; aber ich weiß, daß es lange dauerte, bis ich Wilhelm Raabe und Jakob Corvinus als die nämliche Person zu betrachten mich gewöhnte, weil es mir schier als ein zu großer Reichthum in Eines Besitzers Hand bedünkte, der funkelnd und blitzend durch diese Geschichten rollte. Als bartloser Knabe trug ich verstohlen die „Chronik der Sperlingsgasse“ aus der Leihbibliothek nach Hause – es war nicht lange nach dem Krimkriege – und heute, nachdem inzwischen unter dem dröhnenden Tritte der Geschichte die Welt und die Menschen ein anderes Gesicht bekommen haben, finde ich es fast wunderlich, daß der alte, treue Johannes Wachholder von der Sperlingsgasse noch immer lebendig und leibhaftig vor mir dasteht, als gäbe es für ihn kein Sterben. Oder sollte er wirklich unvergeßlich sein für diejenigen, denen er einmal begegnete, obgleich sein erstes Wort, mit dem er sich überall vorstellte, eine wehmüthige Klage über sein Alter war: „Ich bin ein einsamer alter Mann geworden“?

Ach Gott, mit dem Alter ist es ein seltsames Ding; das graue Haar ist es nicht, in dem es sich offenbart, und unter denen, die immer jung bleiben, sind die Humoristen am unverwüstlichsten.

Nichts Müßigeres giebt es, als tiefsinnig über das Wesen des Humors zu grübeln. Witz, Satire, Sarkasmus haben wenig mit dem Humor zu schaffen, so wenig wie der Verstand mit dem Herzen, der Kritiker mit dem Poeten etwas zu schaffen hat. Aber befreie dich, du mühseliges Menschenkind, von aller Schwere und allem Elend des Daseins, steige fessellos in den Aether empor, um vom da oben herab mit ungetrübtem Blick, gleich theilnehmend am Glück wie am Unglück, die Welt zu betrachten, lache den Traurigen das Leid aus der Seele, den Uebermüthigen die Wehmuth in den Sinn, und du bist der wahre Humorist, wie man dies Wort auch definiren mag. Keine Form darf dich beengen, kein Bedenken dich hindern – du weinst, wo andere lachen, du lachst, wo andere weinen. Das ist die Freiheit, die du voraus hast vor den Millionen Sklaven, den Sklaven des Berufes, der Leidenschaft, der Sitte. Was ist’s denn mit diesem Wilhelm Raabe, daß sich ihm die Herzen erschließen, als besäße er einen Zauberstab, sie zu öffnen? Hat er große Abenteuer zu bestehen gehabt, ist das Schicksal launenhaft mit ihm umgesprungen? Nein, es handelt sich um eines der anspruchslosesten und einfachsten deutschen Poetenleben, ohne Stromschnellen und Katarakte in seinem stillen Laufe.

Ein braunschweigischer Beamtensohn absolvirt das Gymnasium in Wolfenbüttel, versucht es dann mit dem Buchhandel, findet aber an dem Studium größeres Gefallen, heirathet seine Base, wohnt acht Jahre in Stuttgart, um hierauf nach der Hauptstadt seines Heimathlandes zurückzukehren, wo er bis heute – ein siebenundfünfzigjähriger Mann – zufrieden und emsig schaffend lebt. Das ist doch wahrlich kein vollgerüttelt Maß von odysseischen Erlebnissen und Erfahrungen, und dennoch – wie viel lachende Weisheit und mitleidsvoller Zuspruch sind der Phantasie und dem Geiste dieses dichtenden Menschenkindes schon entquollen, seitdem ihm in der Berliner Spreestraße vor etlichen dreißig Jahren die Gestalt des Johannes Wachholder erschien!

„Seid gegrüßt,“ rief damals der alte gelehrte Hagestolz am Ende der Geschichte, die ihn Raabe erzählen ließ, „alle ihr Herzen bei Tag und bei Nacht; sei gegrüßt, du großes träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, welche du die ewige Liebe bist! Amen!“

Und der Gruß ward vernommen und erwidert, von den Herzen, vom Vaterland, von der Gasse, von der Liebe. Wo unterdessen auch der Dichter seinen Stab niedergesetzt hat, immer fand sich eine liebevolle Gemeinde, die nach ihm ausschaute, die sich lauschend um ihn scharte; denn Thränen zu trocknen giebt es ach! so viele auf der Welt und ein befreiendes Lächeln sich abstehlen zu lassen, dazu sind gottlob alle guten Menschen gern bereit. Freilich, das große träumende Vaterland hat längst zu träumen ausgehört; die kleine, enge, dunkle Gasse ist umbraust von dem betäubenden Lärm der Weltstadt, und mitunter will es mürrische Zweifler bedünken, als ob die große schaffende Gewalt, welche die ewige Liebe ist, gar nicht mehr ihres Amtes walte. Aber sagt nur nicht etwas derartiges dem Humoristen auf der Wolfenbüttelerstraße in Braunschweig! Er ist der nämliche geblieben, und was auch um ihn her sich verändert hat, er sieht es und grüßt es mit seinem weiten Herzen, mit seinem sinnvollen Blicke, mit seinem überschauenden Geiste auch in der veränderten Welt: das große Vaterland, das nicht mehr träumt, aber auch nicht mehr das „Land der Vaterländer“ ist; die Liebe, die nicht gestorben, obgleich sie nicht mehr am Arme des Philisters einherschreitet; die Gasse, in die der Strahl einer neuen Sonne hineingefluthet. Jedoch die großen Wandlungen, welche sich in der äußeren Gestaltung der Völkerschicksale vollziehen, lassen den wahren Humoristen unberührt; ihm ist das Menschenherz der Mittelpunkt und Inbegriff der Welt und eine weltumformende Völkerschlacht lockt seinen Blick weniger mächtig an als der verborgene Liebeskampf eines einfachen Menschenkindes. Das liebe Ich, das eigene wie dasjenige des anderen, dieses geheimnißvolle, wunderliche Ding inmitten des Weltgetriebes, das gehorcht und gebietet, schafft und leidet, bedeutet ihm mehr als der gesammte Globus, und als echter Humorist schreibt Wilhelm Raabe in einem Briefe an einen Freund nach dem Erscheinen der „Krähenfelder Geschichten“, zu dem ihn der Freund beglückwünscht hat:

„Ja, ja, so springt man in Krähenfeld mit den erlauchtesten Damen des höchsten Adels um! Aber die verw. Gräfin Fredegunde zum Stuhle ist bereits gerächt; Müller hat uns die Wohnung gekündigt und ich schreibe keine Krähenfelder Geschichten mehr. Vom ersten Oktober dieses Jahres an (1882) wird die Salzdahlumerstraße meinen Schritt nicht mehr vernehmen, meinen Schatten nicht mehr an ihren Mauern hingleiten sehen! Nur in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_475.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)