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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

und in breitem Strahlenbündel in unser Zimmer. Wir standen am Fenster. Ihre Arme lagen um meinen Hals und meine Hand wühlte in dem dunklen gelösten Gelock ihres Haares, das um sie niederwallte. Ihr Mund lag dicht an meinem Ohr; da sang sie wieder leise:

„Und du kannst noch zehn Jahr warten,
Zehn Jahr sind bald herum!“

Wundersam sah sie mich an und ein silberhelles glückliches Lachen erklang von den rothen Lippen, die sie mir bot! –

Du fragst nach der schönen Wiebke? Sie ist seit anderthalb Jahren mit einem königlichen Lotsen verheiratet; wir waren von Stagersand aus beide auf ihrer Hochzeit und haben bei ihrem Buben kürzlich Gevatter gestanden. Wir haben ihr zur Hochzeit ein schweres goldenes Armband geschenkt. Meine Frau war erst dagegen; aber Wiebke wurde roth vor Freude, als sie es anlegte. Sie ist jedenfalls die hübscheste Frau an der Küste und ihr Mann ist ein forscher Seemann mit zwei sehr hellen, scharfen Augen im Kopf.

Da hast Du die Geschichte meiner Liebe, Fritz. Ich wünsch’ Dir nur, sei so glücklich wie ich, dann gehst Du gesegnet auf Erden. Hildegard läßt Dich hundertmal grüßen! Sie trägt mir’s auf, indem sie als reizende sorgliche Hausfrau in die Laube tritt, eine Kanne mit dem schäumenden Trunk in der Hand. Ja wohl, nun singe ich wieder wie einst:

„Das schwarzbraune Bier, das trink’ ich so gern,“ wenn sie’s mir schenkt – und „die schwarzbraunen Mädel, die küss’ ich so gern“ – wenn sie mein eigen sind, heut’, morgen und allezeit!

Auch Aennchen läßt Dich grüßen. Ist eine allerliebste Pastorsfrau geworden. Sie ist zu Besuch bei uns. Sie sitzt gerade drinnen am Klavier und spielt:

„Das Lieben bringt groß’ Freud’,
Es wissen’s alle Leut! “

Hat recht! Ich weiß es; Du weißt es auch! Vale faveque! Auf deutsch: „Behüt’ Dich Gott! und behalte mich lieb!“




(Nachdruck mit Quellenangabe gestattet.)
Eine Eisenbahnreise im Jahre 1893.

Es war am 14. Juli 1893. Die letzten Termine waren überstanden. Die Gerichtsferien hatten begonnen, auch die Schulferien. Alles drängte den Bahnhöfen der Stadt zu, die aber bei Leibe nicht mehr Bahnhöfe hießen, sondern „Empfangsgebäude“.

Seit Beginn des Jahres war in ganz Deutschland die große Eisenbahnreform in Kraft getreten, welche mein Freund Dr. Eduard Engel in Berlin vor fünf Jahren auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege einer Druckschrift, damals zunächst theoretisch, begonnen hatte, auf demselben Wege also wie mancher andere Reformator – und seither hatten die Gedanken des Büchleins ihren Siegeszug gehalten durch die Spalten der Tages- und Fachpresse, durch die Parlamente des Reichs und der Einzelstaaten, schließlich sogar – wenn auch von manchem Kernfluch über die grundstürzende Neuerung begleitet, durch die Eisenbahnämter und – die obersten Stellen der Reichs- und Landeseisenbahnen. Und seit Beginn des laufenden Jahres 1893 hatte man in Deutschland den großen Sprung ins Dunkle gewagt, und die „Eisenbahnreform“ Dr. Engels durchgeführt, welche in Buchform vor fünf Jahren, 1888, Hermann Costenoble in Jena in Verlag genommen hatte.

Der Lärm in der in- und ausländischen Presse über die Ergebnisse dieser deutschen Neuerung war in der ersten Hälfte des Jahres 1893 ein so ungeheurer, so betäubender gewesen, daß ich seit Januar grundsätzlich nichts mehr darüber gelesen hatte. Daß unsere Eisenbahnfinanzen infolge dieser Neuerung keineswegs dem unvermeidlichen Bankerutt zueilten, den Hunderte von Eisenbahnfachmännern vorher geweissagt hatten, war bereits ausgemacht. Mich interessirte aber viel mehr, als diese keineswegs unwichtige Frage, die andere: wie man nach den zu gesetzlichem Ansehen gelangten Grundsätzen der Eisenbahnreform meines Freundes nun reisen werde. Das persönlich zu erproben, hatte eine Kette widriger Umstände, vor allem Zeitmangel, bisher gehindert. Neugierig wie ein Kind, nahte ich mich nun Mitte Juli des Probejahres sammt meiner Familie dem Empfangsgebäude und in diesem dem „Fahrscheinschalter“ – auch das Wort „Billet“ war von der Hochfluth der Sprachreinigung längst verschlungen worden.

Seit mehr als dreißig Jahren war ich in diesem „Empfangsgebäude“ der Thüringischen Eisenbahn zu Leipzig zur Zeit der Sommerreisen Stammgast. Hier hatte einst der Bräutigam die Briefe an die in der Schweiz wohnende Braut in den Nachtschnellzug geworfen. Von hier war er ausgezogen, um sie heimzuführen. Hier waren später die Kinder in den Wagen gehoben worden, um mit den Eltern alljährlich die fröhliche Sommerfahrt in die schweizer Berge anzutreten. Höher und höher wuchsen Sie heran und theurer und theurer wurde die Fahrt. In der Zeit, da es noch keine kombinirten Rundfahrtbillets und Extrazüge gab, wurden jedesmal rund 370 Mark in Leipzig für die Fahrt nach Basel, und ebenso viele Mark in Basel für die Fahrt nach Leipzig, an dem Schalter aufgezählt, nur um die Fahrt zweiter Klasse für sieben Personen zu bestreiten. Die große Ausgabe für Ueberfracht des Gepäcks war dabei ungerechnet.

Mit dem seligen Gefühl eines Bürgers der Vorzeit, wenn dieser vor dem erlegten Landesdrachen stand und demselben nun beruhigt in das nimmersatte Maul blickte, nahte ich diesmal an der Spitze meiner Lieben dem thüringischen Schalter und forderte sieben Fahrscheine zweiter Klasse nach Basel für den Blitzzug – der, beiläufig bemerkt, nun in elf bis zwölf Stunden von Leipzig bis Basel fuhr.

„Nach Basel?“ versetzte lächelnd der Beamte. „Giebt’s nicht mehr seit Engel. Sie meinen ‚dritte Zone‘, da können Sie nach allen Richtungen bis an die Grenzen des Deutschen Reiches reisen, wohin Sie wollen.“

Die Worte klangen berauschend schön und verlockend. Vor fünf Jahren hätte jedermann diese „dritte Zone“ in der berühmten „vierten Dimension“ gesucht, natürlich ohne Sie zu finden. Ich wollte aber doch noch etwas mehr über diese „dritte Zone“ hören, ehe ich aufs Gerathewohl mit meiner ganzen Familie darauf los oder in Sie hineinfuhr.

„Wodurch unterscheidet sich denn diese ‚dritte Zone‘ von den übrigen Zonen, z. B. den beiden ersten?“ fragte ich.

„Z. B. den beiden ersten?“ versetzte der Beamte mit himmlischer Geduld und mit mildem Lächeln. „Das ist auch nicht zutreffend, wenn Sie etwa damit andeuten wollen, daß wir noch mehr als drei Zonen hätten oder annähmen. Sie lesen wohl wenig Zeitungen, lieber Herr?“

„Gar keine über die Eisenbahnreform.“

„Das muß wohl sein. Denn seit sechs Monaten sind alle Blätter tagtäglich damit beschäftigt, unsern so einfachen Zonentarif dem lieben Publikum einzuprägen. Hier nebenan hängt der Anschlag. Bitte, lesen Sie ihn und entscheiden Sie sich dann. Das Gedränge am Schalter ist jetzt zu groß zur Fortführung unseres Gespräches.“

„Schön.“

Ich las den Anschlag. Er war in der That von verblüffender Einfachheit. Denn er lautete: „Es werden im ganzen Deutschen Reiche nur neun Arten von Eisenbahnfahrscheinen (Billets) ausgegeben, nämlich:

1., für die erste Zone (25 Kilometer Entfernung in jeder Richtung von der Abfahrtsstelle mit eintägiger Gültigkeit) zu folgenden Preisen:

III. Klasse II. Klasse I. Klasse
25 Pfg. 50 Pfg. 2 Mark.

2., für die zweite Zone (26 bis 50 Kilometer Entfernung in jeder Richtung von der Abfahrtsstelle):

III. Klasse II. Klasse I. Klasse
50 Pfg. 1 Mark. 4 Mark.
Gültigkeitsdauer einen Tag.

3., für die dritte Zone Entfernung über 50 Kilometer in jeder Richtung (mit dreitägiger Gültigkeit der Fahrscheine):

III. Klasse II. Klasse I. Klasse
1 Mark. 2 Mark. 6 Mark.

Für die Benutzung des Blitzzuges sind je zwei Fahrscheine der Klasse zu lösen, welche man benutzen will.“

Ich machte mir nach dieser Anweisung die Kopfrechnung: „Leipzig-Basel ist ‚dritte Zone‘. Sieben Billets – Vergebung ‚Fahrscheine!‘ – zweiter Klasse kosten also sieben mal zwei Mark, also 14 Mark mit dem gewöhnlichen Zuge, die doppelte Zahl Fahrscheine für den Blitzzug 28 Mark! Das heißt sieben Personen zahlen zusammen wenig mehr als die Hälfte des Fahrpreises, den Anno 1888 eine einzige Person für sich erschwingen mußte, um in dem damals viel langsamer fahrenden Schnellzug von Leipzig nach Basel zu reisen (52 Mark 30 Pfg.)!“

„Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!“ rief ich mir bei dieser Entdeckung im Stillen zu. „Wie schade, daß dieser ebenso einfache als bescheidene Tarif nicht schon seit dreißig Jahren in Geltung ist! Ich hätte viele Tausende dabei erspart, und die Eisenbahnen hätten – wie die Erfahrung zeigt – sich auch nicht schlechter dabei gestanden. Excellenz Varus Maybach, geben Sie mir doch meine Legionen Mark wieder! Ach, das ist ein frommer Wunsch!“

„Geben Sie mir also vierzehn Fahrscheine zweiter Klasse nach der dritten Zone,“ sagte ich laut zum Schalterbeamten.

„Aber wollen Sie nicht lieber erste Klasse nehmen?“ fragte mich dieser Verführer zur Verschwendung. Die Wagen zweiter Klasse sind nämlich nach den Vorschlägen des Eisenbahn-Evangelisten Engel bedeutend unbequemer geworden als früher. Die Wagen erster Klasse dagegen bedeutend bequemer. Ihre Reisegesellschaft würde einen Salon oder zwei Fahrabtheilungen erster Klasse für sich haben. Die Sitze sind sehr bequeme, tiefe, breite Polsterstühle, verschiebbar, mit Schemel, zur Nachtfahrt als förmliche Betten auseinander zu klappen. Sie haben da schwere Teppiche auf dem Fußboden, elektrisches Licht, Wascheinrichtung mit allem Zubehör. Ein doppelter, mit dämpfender Füllung versehener Fußboden, beste Federn, holzgefüllte Wagenräder bieten alles, was bisher zur Verminderung des Fahrgerassels und Wagenstoßens erfunden ist. Und der Preis für diesen –“

„Hochgenuß des Jahrhunderts, wollen Sie sagen –“

„Richtig, mein Herr, beträgt von Eydtkuhnen bis Trier und von Emden bis Basel, von Verviers bis Freilassing sechs Mark im gewöhnlichen, zwölf Mark im Blitzzuge. Von Leipzig nach Basel zahlen Sie also für Ihre vierzehn Fahrscheine zum Blitzzuge wenig mehr als früher ein einziges Billet erster Klasse (70 Mark 50 Pfennig) auf derselben Strecke oder ein zeitraubendes ‚kombinirtes Rundfahrtbillets‘ zweiter Klasse hin und zurück (71 Mark 60 Pfennig oder 75 Mark 50 Pfennig). Sie könnten aber, wenn Sie dazu Lust hätten, für dasselbe Geld auch die doppelte Entfernung im Deutschen Reiche durchfahren, als die von Leipzig nach Basel, denn die Entfernung spielt heute nur bei Abgrenzung der drei Zonen, sonst gar keine Rolle mehr.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_514.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)