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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 1.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Flammenzeichen.
Roman von E. Werner.

Durch die grauen Nebel des Herbstmorgens zog ein Schwarm von Wandervögeln. Wie zum Abschiedsgruße strichen sie noch einmal dicht über die Wipfel der heimischen Föhrenwälder hin, dann hoben sie sich hoch empor, wandten ihren Flug dem Süden zu und verschwanden langsam in der umschleierten Ferne.

Aus einem der Fenster des mächtigen schloßartigen Gebäudes, das am Rande der Forsten lag, blickte ein Paar Augen jenem Fluge nach, die ernsten, düstern Augen eines Mannes, der im Gespräche mit einem andern Herrn am Fenster stand. Es war eine hohe, markige Gestalt, mit nicht schönen, aber ausdrucksvollen Zügen, blond und blauäugig, eine echt germanische Erscheinung; aber es lag etwas wie ein Schatten auf diesen Zügen, und die hohe Stirn war tiefer gefurcht, als es die Jahre des Mannes mit sich brachten, dessen straffe Haltung auch ohne die Uniform, die er trug, den Soldaten verrathen hätte.

„Da ziehen schon die Wandervögel!“ sagte er, auf den Schwarm deutend, der immer weiter und weiter entschwand und sich endlich in den Nebelwolken verlor. „Der Herbst ist da, in der Natur – und wohl auch in unserem Leben!“

„In dem Deinigen doch nicht!“ warf sein Gefährte ein. „Du stehst ja erst in der Mittagshöhe dieses Lebens, in der vollsten Manneskraft.“


Guten Morgen!
Nach einem Gemälde von Hugo Oehmichen.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.


„Den Jahren nach allerdings, aber ich habe ein Gefühl, als würde mir das Alter früher nahen als jedem andern. Mir ist oft recht herbstlich zu Muthe.“

Der andere Herr, der einige Jahre älter sein mochte, eine schmächtige, mittelgroße Gestalt in Civilkleidung, schüttelte unmuthig den Kopf. Er sah auf den ersten Blick fast unbedeutend aus neben der kraftvollen Erscheinung des Offiziers, aber das blasse, scharfgezeichnete Gesicht hatte einen Ausdruck kalter, überlegener Ruhe, und der sarkastische Zug um die schmalen Lippen verrieth, daß sich hinter der kühlen Vornehmheit, die sich in der Haltung und dem ganzen Wesen aussprach, wohl noch etwas anderes, Bedeutenderes barg.

„Du nimmst das Leben zu schwer, Falkenried,“ sagte er tadelnd. „Du hast Dich überhaupt seltsam verändert in den letzten Jahren. Wer Dich einst als jungen, lebensfrohen Offizier gesehen hat, würde Dich jetzt nicht wiedererkennen. Und weshalb das alles? Der Schatten, der einst Dein Leben verdüsterte, ist ja längst geschwunden. Du bist Soldat mit Leib und Seele, wirst bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet, eine bedeutende Stellung ist Dir für die Zukunft gewiß, und was die Hauptsache ist – Du hast Deinen Sohn behalten.“

Falkenried antwortete nicht, er kreuzte die Arme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_001.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2018)