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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 7.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.


Wer sich um die achte Abendstunde eines unfreundlichen und regennassen Berliner Herbsttages von der gewaltigen Menschenwelle forttragen läßt, welche unaufhörlich durch die lange, schnurgerade Friedrichstraße fluthet, der darf nicht fürchten, durch sein Aussehen oder sein Gebahren die Aufmerksamkeit gar so leicht auf sich zu lenken. In diesem unendlichen Strome geschäftigen Vorwärtstreibens, in diesem beständigen Drängen, Hasten und Durcheinanderwinden ist für den einzelnen kaum die Möglichkeit zu müßigen Betrachtungen gegeben. Selbst über auffällige und sonderbare Erscheinungen, wie sie in der Hauptverkehrsstraße einer Millionenstadt niemals fehlen, gleitet das Auge in flüchtigem Erstaunen hinweg, und schon die nächste Sekunde verwischt mit einem völlig veränderten Bilde den befremdlichen Eindruck, welchen eine Seltsamkeit vielleicht erzeugte.

So konnte denn auch eine hagere, schlottrige Männergestalt, nach der sich auf einer weniger belebten Promenade wahrscheinlich mancher neugierige Blick gewendet haben würde, unbelästigt und unbemerkt durch das Gewühl dahinwandern. Selbst da, wo die elektrischen Bogenlampen am Eingang einer Bierstube oder die blendenden Reflektoren eines prächtigen Schaufensters ihr scharfes Licht voll auf den Vorübergehenden warfen, wäre es schwer gewesen, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf sein Alter oder seinen Stand zu schließen. Der magere Körper mit den langen Armen, den abfallenden Schultern und der flachen Brust hatte etwas von dem Aussehen einer in ihrer Entwicklung verkümmerten Jünglingsgestalt; aber in dem blassen, bartlosen, hohlwangigen Gesicht waren einige fast greisenhafte Züge. Und doch war dies von leicht gewelltem, dunklem Haar umgebene Antlitz nicht eigentlich häßlich zu nennen. Es trug das unverkennbare Gepräge eines geweckten Geistes, und der kleine, fast weibisch zart gebildete Mund gab ihm einen merkwürdig rührenden Ausdruck von Sanftmuth und Geduld. Dafür, daß er nicht den vom Glücke Auserwählten unter den Sterblichen beizuzählen sei, sprach die mehr als bescheidene Kleidung des Mannes deutlich genug. Sie war aus schlechtem Stoffe und schlotterte so ungeschickt und faltig um seine Glieder, als sei sie für einen ungleich

Nach des Tages Mühen.0 Von Ed. Grützner.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_197.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2021)