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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Male in ihrem rothen Röckchen durch die blühende Wiese lief, da stürzte der Vater sich in das Gras, umschlang das Kind mit seinen Armen und heiße Freudenthränen rannen ihm über die Wangen.”

In Märchen liest man es wohl, daß ein Kind durch den Wald geht und die Thiere fürchten sich nicht vor ihm. Gerda war ein solches Märchenkind. „Die Vögelchen ließen sie ganz nahe kommen und blieben sitzen, wenn sie mit ihrem leichten Schritt vorüberging.” Alles liebte sie. „Bohnenblüthe” nannte sie eine Freundin des Hauses und andere Freunde hatten andere liebliche Namen für sie.

Den beglückendsten Zauber aber übte sie auf ihre beiden Eltern aus. Auf Spaziergängen ließ sie des Vaters Hand nicht los; und oft hat er sie auf seinen Schultern halbe Stunden weit getragen, wenn die Gänge sich weiter ausdehnten. Im Studierzimmer war sie wie zu Hause; der Vater hatte ihr eine eigene Spielschublade dort eingerichtet und das eine und das andere Mal sah man dort jenes glückselige Bild, wie wir es eingangs gezeichnet haben.

Sie hatte die volle Anmuth des Gemüths. Schnell fand sie heraus, was den andern Freude machen konnte, und sie scheute kein Opfer, es zu vollführen. Ihrer Mutter gehörte sie jede Minute, die diese den anderen Pflichten abgewinnen konnte.

Und dieses Kind sollte den Eltern entrissen werden! Gerda war noch nicht zwölf Jahre alt, als sie, im Herbst des Jahres 1879, erkrankte. Drei Monate lag sie danieder an einer Brustfellentzündung und später an einem Herzleiden. Rührend entfaltete sich ihre Selbstlosigkeit und ihre Sorge um die Mutter, die ihre einzige Pflegerin war. An den Vater, der auf einer Vortragsreise sich befand, schrieb sie, fast schon sterbend: „Komm nach Haus, die Mama ist so traurig, wir müssen Dich haben!“

Er kam, um sie sterben zu sehen. Am 13. November, genau drei Jahre vor ihrem Vater, verschied sie.

Und nun lassen wir den Dichter, den Vater reden! Er hat die nachfolgenden Gedichte geschaffen im Ringen mit seinem ungeheuren Schmerze und sie der tiefgebeugten Mutter zugeeignet. Gedruckt sind sie noch nicht, bis auf das zweite, welches seinerzeit in einen Nachruf auf Gottfried Kinkel in der „Schweizerischen Lehrerzeitung” (1882) verwoben wurde. Oft wird man sich der Wahrnehmung nicht entziehen können, daß die Verse noch nicht die letzte feilende Hand erfahren haben, die der Dichter jedenfalls an sie gelegt hätte, wenn es ihm selbst noch vergönnt gewesen wäre, seine Lieder der Oeffentlichkeit zu übergeben. Wir haben uns bei der überlieferten Gestalt beschieden und wollten uns nicht vermessen, den Dichter zu verbessern.


Gerda.

               „und soll ich sagen: Wärst du nie geboren! dann wühlte heute nicht so tief das Leid –
               Nein, süßes Kind! Du bleibst mir unverloren auf alle Zeit!”

Durch des Fensterladens Spalte
Bricht des Morgens grauer Schein,
Wo am Bettchen Wacht ich halte
Bei dem kranken Töchterlein.

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Und die Angst fragt, ob am Ende

Dieses Tags ihr Herzchen bricht?
Oder ob sich aufwärts wende
Neu der Pfad zum holden Licht?

Aus der Feigheit, die zum bösen

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Götzendienst des Nichts dich dringt,

Kann, wie bald, ein Kind dich lösen,
Wenn es bang ums Leben ringt.

Wieder glänzt in wachem Traume
Jede Frucht dir süß und voll –

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Ach, daß sie vom Lebensbaume

Nie ihr Händchen brechen soll!

Wenn die Bahn von dünnem Eise
Unterm Stahlschuh klagend singt,
Ob wohl noch ihr Blut die Kreise

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Heiß durchs Herz des Mädchens schwingt?


Wenn der Lenzwind küßt die Rose,
Die noch schüchtern vor ihm flieht,
Ob der Traum vom eig’nen Lose
Durch die zarte Seele zieht?

25
Wenn beim Fall der Blüthenflocken

Wogt das Saatfeld grün und dicht,
Ob sie dann durch blonde Locken
Den Cyanenkranz sich flicht?

Herbst im Schmuck von goldnem Laube!

30
Ob, ein weißes Tuch im Haar,

Sie noch schneiden wird die Traube,
Jauchzend in der Winzer Schar?

Auch die höchste Liebesstunde
Wird vielleicht ihr noch beschert:

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Erster Kuß vom trauten Munde,

Der allein des Lebens werth!

Was dir selbst am Reiz des Lebens
In der müden Hand zerrinnt,
Wie so werth als Ziel des Strebens

40
Scheint es heut dir für dem Kind!


Aus dem schwülen Krankenzimmer,
Aus dem Dunkel, halb erhellt
Von des Nachtlichts mattem Flimmer,
O wie farbig strahlt die Welt!

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Der Erde bunte Schöne

Hüllt sanft sich dir in Flor,
Der Straßen rauhe Töne
Vernimmt nur leis dein Ohr.

Will dich ein Lüftchen fächeln,

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Dir ist’s nicht mehr Genuß,

Es schwand dein süßes Lächeln
Selbst bei der Mutter Kuß.

Du nimmst mit dürren Lippen
Vom Arzt den bittern Trank –

55
Vom süßen Wein zu nippen

Wardst du schon lang zu krank.

Die heiße Lust am Leben
Ward in den Adern still,
Und du fügst dich ergeben,

60
Wie dein Geschick es will.


Du bist von uns geschieden,
Eh noch der Tod dich nahm –
Du lösest dich in Frieden,
Und uns zerreißt der Gram.

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65
Den Myrthenkranz ums Haupt, im Blumenfülle

Ruhst Lilie du im weißen Mädchenkleid,
Und leis entfärbt sich schon die zarte Hülle,
Dem unerbittlichen Zerfall geweiht!

O könnt’ ich nur dich vor dem Moder retten,

70
Der langsam und entstellend dich verzehrt,

Und dürft ich dich, solang du schön noch, betten
Mit Vaterarmen auf den Flammenherd!

Die Gluthen lösten rasch die jungen Glieder,
Du stiegst, ein Wölkchen, auf zu Licht und Luft,

75
Du schwebtest bald auf Wald und Wiesen nieder

Und hauchtest neu in junger Blumen Duft.

In kleiner Urne könnten wir vereinen,
Was dann als Erdenstaub von dir noch blieb –
Auf reine Asche fromme Thränen weinen,

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Für Vater und für Mutter, o wie lieb!


Umsonst! Du sollt nicht frei zum Aether lodern,
Gereinigt von der heil’gen Flamme Schwall!
Dein Los ist, in dem feuchten Grund zu modern,
Und spät erst kehrst du wieder in das All!

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