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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

erklärte just seinen Kneipkumpanen, das Oel im Glase sei Skorpionöl, und das sei das beste Heilmittel wider Brand und Gicht, wider zehrendes Fieber und fallende Sucht.

„Laß mi aus mit Deine Skorpion!“ sagte der Gederer Muckl. „Spinnenhaxen san’s und Heuschreckenköpf’!“

Drüben am andern Tisch rückte das Nannei näher zu ihrem Bruder hin.

Der Schwazer Hans fuhr fort, mit seinem Storpionöl groß zu thun. Aber wie horchten die Thurnhamerleute auf, als er jetzt zu erzählen anfing, daß er vor fünf Jahren auch auf der Insel gewesen sei und sich nachts statt ins Bett in ein Schiff zum Schlafen niedergelegt habe! Und wie er aufgewacht sei, da sei er mitten im See gewesen, und die Wellen wären dahergekommen so hoch wie der Solstein und die Martinswand. Und zuletzt sei das Schiff in tausend Trümmer gebrochen und er sei auf seinem rothen Kasten ans Land geritten und habe nichts verloren, als sein Glas mit Skorpionöl. Das sei aber so fein und kräftig gewesen, daß er’s für tauend Gulden nicht habe verkaufen wollen.

So schwatzte der Tiroler, schnitt gräuliche Grimassen und schielte mit seinem einzigen Auge beständig noch dem Nannei hinüber. Als der Toni und das Nannei sich erhoben, zog der Schwazer Hans eine schwarze Schildkröte aus dem Janker und hielt sie dem Mädchen entgegen.

„Laß mi aus mit Deine Gankerln[1]!“ zürnte das Nannei und sprang aus der Thür: Lautes Gelächter scholl ihr nach.

Als aber die Geschwister um den See herum heimfuhren, sagte der Toni: „Du, Nannei! Mir ist’s doch lieb, daß unser Vater nicht mit dem Teufel über den See gefahren ist, sondern nur mit dem tiroler Haderlumper!“

„Weißt’s gewiß, daß er bloß ein Haderlumper is?“ fragte das Nannei ernsthaft dagegen.

Dem Toni kam ein leiser Zweifel an seiner aufgeklärten Weltanschauung. „Nix Gewisses weiß ma freili nit!“ sagte er.

Und in tiefen Gedanken fuhren die Geschwister weiter, dem Thurnhamer Hofe zu, der im hellen Sonnenschein vom fernen Waldsaum herüberglänzte.



  1. Bayerischer Dialektausdruck für Teufelchen.




Uralte Erbstücke.

Eine kulturwissenschaftliche Skizze von Dr. Gustav von Buchwald.


Wenn deutsche Kulturforschung ihre Hände in die weitesten Fernen der Erde ausstreckt, um den ärmlichen Haushalt des Wilden zu sammeln, wenn ihre Finger die Schollen der Erde durchwühlen, um spärliche Reste uralter Vorzeit zu ergreifen – was will sie uns Kinder hochentwickelter Kultur damit lehren? Wo ist der Berührungspunkt zwischen uns und den Menschen der Steinzeit oder den Wilden? Haben wir denn noch irgend etwas mit jenen gemein?

Das sind Fragen, die dem Forscher oft genug entgegen tönen, und sie sind nicht leicht zu beantworten. Gegenüber einer Betrachtungsweise, die den Menschen als vollkommenes Ebenbild des Schöpfers in vollendeter Herrlichkeit entstehen und dann immer tiefer und tiefer, körperlich wie sittlich, sinken läßt, hat die gesammte Kulturforschung die Thatsache bestätigt, daß die Entwicklung des Menschengeschlechtes den umgekehrten Weg eingeschlagen hat. Langsam, sehr langsam hat sich die Geisteskraft des Menschen durch Vererbung von Erfahrungen zu unserer Kulturhöhe gesteigert. Abschnitte auf diesem Wege sind es, die wir durch archäologische und ethnologische Forschung kennen lernen. Erst im Vergleich mit ihnen können wir die Wurzeln finden, aus denen unsere Sitten und Gebräuche, ja in letzter Linie auch unsere Anschauungen emporgewachsen sind. Da giebt es Erscheinungen in der Kultur, welche sichere Wegweiser aus dem Jetzt in das Einst sind. Manche Sitten erben sich aus einer Kulturepoche unverändert in die andere hinein, sie überleben ihre Zeit und bestehen als „Ueberlebsel“ weiter. Oft bleibt nur ihre kindliche Form als gemüthlicher Scherz oder als Poesie bestehen, mitunter aber gilt von ihnen das Goethesche Wort:

Vernunft wird Unsinn,
Wohlthat Plage.

Schon sehr niedere Kulturstufen haben ihre Ueberlebsel, aus denen sich der Weg von der Wildheit bis zur Gesittung der Steinzeit erschließen läßt. Ein niedliches Beispiel erzählt einer der feinsten Völkerpsychologen unter den deutschen Reisenden.

Dr. Karl von den Steinen weilte eine Zeitlang bei einem gutbeanlagten Indianerstamm am Schingù, einem Nebenflusse des Amazonenstroms. Zwei Tage hatte er von einer kleisterähnlichen Mehlmasse leben müssen, da brachte ihm der freundliche Dorfhäuptling ein Stück gerösteten Fisches. Es war recht stark geröstet, damit sich ein kräftiger Salzgeschmack entwickle – denn bis zur Salzgewinnung hatten es jene Indianer noch nicht gebracht. Froh, endlich eine Abwechslung in den faden Kleistergeschmack zu erhalten, biß Herr von den Steinen sofort wacker in den Fisch hinein. Aber was geschah? Tiefbeschämt ob dem Betragen dieses Europäers hielten die Indianer die Hände vor die Augen und wandten sich ab. Obwohl sie gemeinschaftlich schon hausartige Wohnungen benutzen, gebietet es doch der Anstand bei ihnen, daß jeder Speisende sich in einen stillen Winkel zurückzieht, wo keines Menschen Auge auf ihn fällt.

Warum? Wenn der Hund einen Knochen findet, so verbirgt er sich mit seiner Mahlzeit, auf daß seine Mithunde sie ihm nicht abjagen. So war es einst auch bei den Menschen – und sobald die Kultur nicht vor schwerer Hungersnot schützt, ist es häufig auch noch so. Ehe der Indianer die niedere Höhe der Steinzeitkultur erreicht hatte, da war es ein nothwendiges Gebot der Selbsterhaltung, allein zu essen. Die Erinnerung an den Gebrauch überlebte diese Periode der Wildheit und hielt sich als Anstandssitte – als guter Ton.

Auch bei uns erfordert der Anstand viele Handlungen, deren innerer Werth auch nicht um Haares Breite höher steht als die Schingù-Indianersitte, allein zu essen. Der würdevolle Orientale hält es für höchst unschicklich, daß der Deutsche den Hut abnimmt, und zahlreiche Deutsche halten das ja jetzt auch für ungesund.

Der Hut selber ist ein Erzeugniß, das sehr alt in der Geschichte des Menschengeschlechtes ist, obwohl keines der ältesten. Bei der Sitte des Hutabnehmens, die in die früheste Zeit germanischer Kultur zurückreicht, kommt es übrigens nicht auf den Hut, sondern auf das Haar an. Die Könige, die Edlen und die Freien tragen den blonden Haarschmuck unverschnitten. Das Abscheeren des Haupthaares galt bei den Merowingern als Zeichen des Ausschlusses von der Thronfolge. Ein freier Mann mußte das Haar nur in einem einzigen Falle abscheeren, nämlich wenn er sich von einem anderen Freien als Sohn annehmen ließ. Er stellte sich dadurch sinnbildlich auf die Stufe des neugeborenen Kindes, das ja auch nur mit kurzem Haar das Licht der Welt erblickt. So geschah es mit Karl Martell, den sein Vater Pippin durch diesen Akt von dem Langobardenkönig Luitprand adoptiren ließ.

Das Abschneiden des Haares bedeutet seit der ältesten Zeit Verstoßung in den Stand der Knechtschaft. Noch der Sachsenspiegel I. 37. § 1 kennt die Bestimmung „die ir lif oder hut und har ledeget, die sint alle rechtlos“ – „die ihr Leben oder Haut und Haar ledigen (d. h. durch Erlegung der Buße den Strafvollzug abwenden), die sind alle rechtlos.“

Der deutsche Hutabnehmer sollte also den kurzgeschorenen Kopf als Zeichen der Unfreiheit zeigen. Die Sitte des Abscheerens der Haare war also selber wieder ein Sinnbild und gehört somit in eine Reihe mit allen anderen Verstümmelungen von Sklaven oder Religionsgenossen, welche das Recht eines Herren über Leben und Tod andeuten.

In jedem Falle, sei der Herr als Mensch oder als Gott gedacht, liegt in der Verstümmelung ein symbolisches Menschenopfer vor. Der Herr nimmt nur einen kleinen Theil des Opfers an und begnügt sich mit dem frommen Willen oder der Arbeitskraft des Geopferten.

Mit diesem Religions- oder Rechtsgedanken schreiten wir aber zurück in eine ganz barbarische Urzeit. Zum Begriff des Opfers gehört es, daß der Empfänger von dem Opfer körperlich genießt. Wir kommen also herunter zu einem Zeitalter menschenfressender Götter und Menschen, wenn wir der Sitte des Hutabnehmens bis auf die letzte Wurzel folgen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_250.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)