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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

erwidern darf. Er hatte seinen Nacken unter die Keulenschläge gebeugt, ohne sich zu fragen, ob dies in Wahrheit ein gerechtes Abwägen sei zwischen seiner Schuld und ihrer Sühne. Jetzt aber war ihm diese Frage gekommen; die belebenden, wunderthätigen Geister des Branntweins hatten sie in irgend einem Winkel seiner Seele geweckt, und diese nämlichen Geister raunten ihm nun auch die Antwort zu mit einem tausendmal wiederholten Nein! Er wollte sich auflehnen, sich rächen; aber er wollte sich nicht erwischen lassen – das war der letzte Schluß, in welchem alle diese sprunghaften und verworrenen Gedanken unfehlbar immer wieder endeten.

Daß seine Rache nur in der Entwendung von van Eycks Madonnenbilde bestehen konnte, war ihm in all den wirren Gedankenwirbeln seines berauschten Gehirns nicht einen Augenblick zweifelhaft gewesen. Nicht allmählich und mit Widerstreben war der Entschluß dazu in ihm gereift, sondern er war plötzlich fest und unverrückbar dagewesen wie etwas Selbstverständliches, das schon seit langem all sein Sinnen und Trachten beherrscht hatte. In Wirklichkeit hatte er gestern durchaus nicht daran gedacht; jetzt aber galt es ihm als gewiß, daß er das Bild schon gestern fortgenommen haben würde, wenn nicht die beständige Anwesenheit des Museumsdieners ein solches Beginnen unmöglich gemacht hätte. Und die Furcht, daß sich die Gelegenheit auch heute nicht günstiger erweisen möchte, war die einzige Sorge, welche sich zuweilen für die Dauer einer Sekunde lähmend auf seine beinahe freudige und von einer brennenden Ungeduld gestachelte Entschlossenheit legte.

Vor der Eingangsthür des Museums hatte sich ein kleines Häuflein Harrender angesammelt, die sich verdrießlich und durchfroren in die warmen Räume stürzten, als ihnen endlich geöffnet wurde. Hudetz beeilte sich gar nicht, ihnen zu folgen. Er befand sich in der heiteren und behaglichen Stimmung eines Menschen, der zur Erhöhung des Sinnenkitzels den Augenblick eines höchsten Genusses hinausschiebt, weil er sicher ist, daß dieser Genuß ihm nicht mehr geraubt werden kann. Und es war merkwürdig, ein wie lebhaftes Vergnügen ihm heute selbst die gleichgültigsten und geringfügigsten Dinge zu bereiten vermochten. Die Amazone und der Löwentödter auf den Treppenwangen – die mächtige Granitschale auf dem freien Platze mit ihrem plumpen hölzernen Deckel – ja, selbst das alte, verhutzelte Weiblein, das immer mit dem nämlichen Tonfall der dünnen, quiekenden Stimme ihr: „Katalog gefällig?“ und „Führer durch die königlichen Museen?“ herplapperte – er sah sie alle nur wie durch einen feinen Schleier und in eigenthümlich verschwimmenden Umrissen, aber sie erschienen ihm nichtsdestoweniger so hübsch und so vergnüglich anzuschauen, daß er gar nicht zu begreifen vermochte, wie ihm das Dasein bei so viel reizvoller Abwechslung jemals hatte leer und unerträglich dünken können.

Mit dem überlegenen Lächeln eines Weisen, der soeben die Lösung einer weltbewegenden Frage gefunden hat, trat er endlich in das Haus. Einer von den Museumsdienern, die im ersten Saale des Erdgeschosses standen, blickte ihn scharf an, aber das hatte heute durchaus nichts Verwirrendes für den ehemaligen Studenten. Vielmehr ergötzte er sich innerlich über die Dummheit dieses Menschen, der trotz allen Anstarrens nicht aus seinen Mienen heraus lesen konnte, was er vorhatte. Er mußte an sich halten, um ihm nicht im Vorbeigehen gerade ins Gesicht zu lachen. Wozu standen diese Aufpasser nun da in ihren schönen Uniformen, wenn sie doch genöthigt waren, die Spitzbuben ungehindert eintreten zu lassen gleich den ehrlichen Leuten!

Es waren erst wenige Besucher in dem westlichen Flügel der Gemäldegalerie, aber vor den Madonnenbildern van Eycks stand ein junges Paar, dem die Abgelegenheit des kleinen Kabinetts gerade recht schien für den Austausch geheimnißvoller Mittheilungen, welche sie sich mit sehr verliebten Gesichtern in die Ohren flüsterten. Es wäre gewiß ein Leichtes gewesen, sie zu verscheuchen, aber Hudetz war zu rücksichtsvoll, etwas derartiges zu versuchen. Mochten sie immerhin erst zu Ende kommen – er hatte ja keine Eile!

Ein einziger Umstand war da, der ihm leichtes Unbehagen machte. Vor Peter Paul Rubens’ „Auferweckung des Lazarus“, die dem Eingang des Kabinetts gerade gegenüber hing, war eine Malerin mit dem Kopiren der gewaltigen Tafel beschäftigt. Sie stand auf einem Tische vor ihrer Staffelei, und wenn sie den Kopf ein wenig wandte, mußte sie jeden Winkel des Kabinetts mit einem einzigen Blick überschauen können. Aber sie war sehr vertieft in ihre Arbeit. Hudetz sah, daß sie mit dem Antlitz des Andreas nicht fertig werden konnte, und in ihrem Bemühen, zu ändern und zu bessern, würde sie gewiß keine besondere Aufmerksamkeit haben für das, was in ihrer Umgebung geschah. Jedenfalls war es nothwendig, sie im Auge zu behalten, und das war eine Unbequemlichkeit, mit welcher er bisher nicht gerechnet hatte.

Doch es gab nichts, das ihn in seiner gegenwärtigen rosigen und zuversichtlichen Stimmung ganz und gar hätte entmuthigen können. Er war von dem Gelingen seines Vorhabens so fest überzeugt, als wären da nicht die geringsten Schwierigkeiten zu überwinden gewesen. Nur den rechten Zeitpunkt mußte er abwarten – weiter nichts, und wo ein solcher Preis zu gewinnen war, da fiel das Opfer einer Viertelstunde doch wahrlich nicht ins Gewicht!

(Fortsetzung folgt.)




Das Jubiläum einer Weltreisenden.

Es ist eine kleine Dame in unscheinbarem, dünnem Gewande. Vor fünfzig Jahren ist sie aufgebrochen aus ihrer Heimath England, und seither hat sie Länder und Völker besucht, deren wir uns kaum aus dem Geographieunterricht entsinnen, so fernab sind sie gelegen. Immer noch ist sie unterwegs und sucht nach neuen Gebieten, die ihr noch fremd geblieben sind, sie strebt ihnen zu mit dem Trieb eines Welteroberers, und vielleicht wenn wir in fünfzig Jahren wieder nach ihr fragen, hat sie ihr letztes Ziel, den letzten Erdenwinkel erreicht, und überall kennt man die kleine Dame in ihrem unscheinbaren dünnen Gewande, die große Weltreisende, die – Postmarke.

Welche gewaltige Wandlungen hat das Postwesen im Verlaufe des letzten halben Jahrhunderts erfahren! War ein geregeltes Postwesen vordem eine Art Sonderrecht der von der Kultur besonders bevorzugten Völker, so giebt es in unseren Tagen kaum noch einen Strich Landes auf der großen weiten Welt, der nicht die Segnungen dieser Einrichtung sich anzueignen bestrebt gewesen wäre.

Figur 1.

Sardinischer Stempel
von 1818.

Figur 2.

Sardinischer Stempel
von 1820.

Für unsere Begriffe recht kindlich waren die Postverhältnisse noch zu Anfang dieses Jahrhunderts. Schwerfällige Verbindungen nicht nur von Staat zu Staat, sondern oft sogar von Stadt zu Stadt, dazu umständliche Portoberechuungen und hohe Portokosten[1]. Mit dem Ende der Befreiungskriege, als alle Völker danach trachteten, die geschlagenen Wunden zu schleuniger Vernarbung zu bringen, da brach eine andere Zeit heran, ein schwaches Morgenroth unserer derzeitigen preiswürdigen Verkehrszustände! Dieser „neuen Zeit“ entgegenzukommen, war die Post bereit, sie vermochte dies aber nur im Rahmen ihrer verhältnißmäßig noch schwachen Macht. An Stelle schwerer, unförmlicher Postkutschen traten schnellbeweglichere Eilpostwagen, die Zahl der Posthaltestellen wurde vermehrt und damit auch die der Postanstalten. Hiermit erlangte die briefschreibende Menschheit bereits Vortheile, welche den größten Anklang finden mußten. Dann kam die Zeit der Dampfkraft und des Telegraphen. Die Dampfschiffahrt in Amerika (1807) und der erste Dampfer, welcher 1838 den Ocean sozusagen überbrückte, weiterhin die Eisenbahn, deren erste Linie in England 1825, auf europäischem Festland, bezw. auf deutschem Boden 1835 eröffnet wurde, endlich in den Jahren 1833 bis 1837 die Einführung der elektrischen Telegraphie – sie gaben zu Hoffnungen auf einen gänzlich veränderten Weltverkehr den gerechtesten Anlaß. Das Bahn- und Telegraphennetz, welches sich in einer ungeahnt schnellen Weise ausbreitete, ließ den berittenen Postkurier und die Eilpostkalesche bald nur im Dienste solcher Gegenden bestehen, die den neuzeitlichen Verkehrsmitteln noch fern lagen.

Einer der ersten Erfolge der Fortschritte auf dem Gebiete der Beförderungsmittel war eine wesentliche Ermäßigung des Briefportos. Noch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts behauptete sich dasselbe auf einer Höhe, daß der kleine Geschäftsmann eher zu jeder noch so langsamen Privatgelegenheit seine Zuflucht nahm, ehe er das theure Geld für die öffentliche Post aufwendete. Gewiß war es nun schon ein bedeutsamer Fortschritt, daß man Briefe von Berlin nach Potsdam für 30 Pfennig, von ebenda nach Marseille für 1 Mark 35 Pfg., nach Kopenhagen für 1 Mark 45 Pfg., nach London für 2 Mark 75 Pfg. zu versenden in die Lage kam und noch dazu auf eine viel raschere

  1. Vergl. den Artikel „Die Weltpost“ im Halbh. 14 des vor. Jahrgangs der „Gartenlaube“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_301.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)