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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Englandreisende – andern Tages zurückerhielt. Um zehn Uhr fing das Hofkonzert an mit einer Ouverture von Händel. Eulenstein, schon vorher eingenommen gegen den in englischen Gesellschaften herrschenden, seinem zarten Musikinstrumente feindlichen Lärm, schaute bei dem Wettern der Blechbläser besorgt ins Nebenzimmer, wo der König weilte. Als die Reihe an ihn kam, ermunterte ihn bald der König durch ein Bravo, in das die andern einstimmten, wünschte aber, daß er sein Tischchen ganz dicht zu ihm heranrücke, und sah ihm dann genau zu bei der Behandlung der Maultrommel. Nach Beendigung des Spiels gab es ein reichliches Nachtmahl mit Weinen aus des Königs Keller, die unserem sonst so enthaltsamen Maultrommler derart mundeten, daß er – ein höchst seltener Fall in seinem Leben – am anderen Morgen nicht mehr wußte, wie er den Weg ins Bett gefunden hatte.

Als sich dann die vornehme Welt auf Reisen und in die Seebäder begab, da zog es auch unsern Freund nach Deutschland, insbesondere nach Lüneburg zurück, wo eine Maid saß, die sein Herz sich erkoren hatte und die mit stiller Treue dem Tage entgegenhoffte, da er sie zum Altare führen werde.

Nun ging es auch in die Vaterstadt Heilbronn zurück. Das dort wohnende rege Handelsvölkchen hatte auf einmal, da sein Ruhm von außen in die Heimath zurückklang, Glauben an ihn, und Hunderte strömten herbei zu seinem Konzert, während früher bei seinem dortigen Auftreten nur 20 Personen gekommen waren.

Als Eulenstein im nächsten Frühjahr abermals nach London reiste, traf ihn ein schwerer Schlag. Beim Essen brach ihm einer der Zähne aus, die er zum Maultrommelspiel brauchte, da das Instrument mit den Zähnen gehalten wird. Zwar gelang es der Kunst des berühmten Zahnarztes Cartwright, in die zurückgebliebene Wurzel einen künstlichen Zahn einzusetzen, mit dem er vorläufig noch weiter spielen konnte, doch sah Eulenstein seiner Virtuosenlaufbahn ein baldiges Ziel gesetzt, da mit falschen Zähnen kein Spiel auf diesem Instrumente möglich ist.

Es überkam ihn nun ein förmliches Fieber, die ihm noch vergönnte Zeit zu nützen und zugleich die Guitarre, die er schon in Paris neben seiner Maultrommel zu pflegen begonnen hatte, mehr zur Geltung zu bringen. Binnen kurzem wurde er auch als einer der besten Guitarrelehrer Londons bekannt und bekam so viele Schüler, daß er keine mehr annehmen konnte.

Und als nun das Unvermeidliche geschah und er den letzten Oberzahn verlor, er also der Maultrommel unwiderruflich entsagen mußte, war seine Lage hinlänglich gefestet, daß er daran denken konnte, sich dauernd in einer der englischen Städte als Lehrer niederzulassen und seinen eigenen Hausstand zu gründen. Zur Sicherheit fügte der findige Mann dem Musikunterricht noch den Sprachunterricht hinzu und schrieb eine deutsche Grammatik für Engländer, welche in der Folge sieben Auflagen erlebte und ihm von wesentlichem Nutzen ward.

*  *  *

An der Seite der braven Lüneburgerin, einer einfachen, sparsamen Hausfrau, brachte es Karl Eulenstein im Verlauf von 15 Jahren zu einem sehr ansehnlichen Vermögen; am 27. August 1847 reiste er mit drei lieben Kindern in seine Vaterstadt Heilbronn zurück, wo er sich ein Haus baute, einen Garten kaufte und ein überaus glückliches Familienleben führte. Später siedelte er nach Cilli in Steiermark über und feierte dort zu Weihnachten letzten Jahres in der Villa seiner Tochter, der Frau Heinz von Roodenfels, seinen 87. Geburtstag unter festlicher Betheiligung der ganzen dortigen Einwohnerschaft. War doch der alte freundliche Herr bekannt und beliebt bei jedermann. Man wußte von ihm, daß er die schönsten Sammlungen besaß von Muscheln, Schnecken, Versteinerungen, Vogeleiern, Schmetterlingen und Käfern.

Sein reger Geist versuchte sich in vielfachen wissenschaftlichen und technischen Beschäftigungen. So verfertigte er vorzügliche große Spiegelteleskope, mikroskopirte und schrieb, über 80 Jahre alt, noch gefällige Duette für Violine und Klavier, die viel gespielt wurden. Er dachte, frisch und munter wie er in seinen alten Tagen war, wohl hundert Jahre alt zu werden; aber seine Lebensflamme nahm doch rasch ab und erlosch im Januar dieses Jahres. Wenn man ihn von den Erlebnissen seiner musikalischen Laufbahn erzählen hörte, wie er Künstler geworden war aus eigener Kraft trotz aller Noth und Entbehrungen, so klang das wie ein Märchen aus einer verschollenen Welt; und doch hatte er Sinn und Verständniß auch dafür, was das heutige Geschlecht bewegt, wie man das zumeist bei Leuten findet, die alles aus sich selbst geworden sind.

Und auch ein Schimmer von Romantik fehlt nicht in diesem Lebensbilde. Der Großvater Eulensteins war einst in Heilbronn eingewandert als ein lustiger Musikant, im Ränzlein ein Wappen auf Pergament von der aus Meißen stammenden Familie „von Eulenstein, vormals genannt von Eulenburg“. Die Stürme des Dreißigjährigen Kriegs hatten die Burg vernichtet, ein Brand die Kirchenbücher des benachbarten Dorfes zerstört, und da die Enkel nur noch wenige Steine fanden, wo einst die Burg gestanden, nannten sie sich fortan Eulenstein und legten auch den Adel ab.




Wie schön der Frühling ist?

Wie schön der Frühling ist?
So schön, daß, wenn er grüßt die Erde kaum,
Das Herz sein ganzes Winterleid vergißt,
Wie man vergißt wohl einen schweren Traum –

5
So schön, daß uns sein erster weicher Hauch

Der Hoffnung leichte Schwingen wieder hebt,
Die aus der kargen Knospe schon am Strauch
Sich lächelnd tausend reiche Kränze webt.

Wie schnell der Frühling zieht?

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So schnell, wie alles Schöne schwinden muß,

Schnell, wie die Jugend, wie die Liebe flieht,
Wie uns das Glück enteilt nach flücht’gem Kuß.
So schnell, daß, eh’ den trunk’nen Blick hinein
Wir tauchten in sein lichtes Blüthenmeer,

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Die zarten sinken, und im stillen Hain

Die Nachtigall schon klagt: „Er ist nicht mehr!“

  A. Nicolai.




Das Ablesen vom Munde.

Am 30. April 1790 starb in Leipzig Samuel Heinicke, der Begründer der ersten deutschen Taubstummenanstalt. Die „Gartenlaube“ hat wiederholt dieses edeln Menschenfreundes gedacht und in Wort und Bild sein Andenken geehrt. Es genüge darum hier, darauf hingewiesen zu haben[1]. Die Saat, die der wackere Heinicke ausgestreut, hat in den vergangenen hundert Jahren reiche Frucht getragen. Das Recht der Taubstummen auf Bildung und Erziehung ist allgemein anerkannt und in allen gesitteten Staaten sind Taubstummenanstalten eingerichtet worden. Voran geht Deutschland, das allein gegen hundert zählt. Wohl ist auch hier noch viel zu thun übrig; aber in einzelnen deutschen Ländern, z. B. im Königreich Sachsen, ist bereits das schöne Ziel erreicht, daß jedes taubstumme Kind in einer Taubstummenanstalt Aufnahme findet. Aehnlich ist es in Württemberg. Und in den übrigen Staaten strebt man dies Ziel zu erreichen, denn jedes Jahr weiß von neu errichteten Anstalten zu erzählen.

Welch reicher Segen ist bereits der Menschheit aus diesen Stätten erwachsen! Tausende von Unglücklichen, die sonst unwissend und roh zur Last ihrer Angehörigen oder der öffentlichen Armenpflege herangewachsen wären, sind zu ordentlichen, brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen worden. Neben einer sittlich religiösen Bildung und Erziehung sind es besonders zwei werthvolle Gaben, welche die Taubstummen in den für sie eingerichteten Schulen empfangen. Sie lernen sprechen, können also anderen hörbar und verständlich ihre Gedanken ausdrücken, und dann – was nicht minder wichtig ist – lernen sie von den Lippen anderer die gesprochenen Worte ablesen und verstehen.

Und noch für weitere Kreise wird die Arbeit der Taubstummenanstalten segensreich werden. Die an Sprachgebrechen leidenden Kinder, die Stotterer und Stammler finden an Taubstummenlehrern gute Helfer.

  1. Aus Anlaß seines hundertjährigen Todestages soll Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg, wo er von 1768 bis 1778 als Schullehrer und Organist wirkte und sein neues Heilverfahren zum ersten Male mit Glück an dem taubstummen Sohne eines Müllers erprobte, ein Denkmal errichtet werden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_320.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2022)