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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Der Schlaf.

I. Der lange Schlaf. – Sagen und Mysterien.

Seit vielen Jahrhunderten ist der 27. Juni ein „Lostag“ ersten Ranges, für die Wetterpropheten wichtiger als Falbs kritische Tage; denn nach altem Volksglauben zeigt er für volle sieben Wochen das Wetter an: regnet es an diesem Tage, so wird es sieben Wochen lang fortregnen und die Erntezeit für den Landwirth höchst ungünstig sein. Diese Bauernregel hat ohne Zweifel viel dazu beigetragen, daß die Legende von den Siebenschläfern, denen der 27. Juni in deutschen Volkskalendern geweiht ist, eine so große Verbreitung und sozusagen Berühmtheit erlangt hat. Die Beziehungen der Siebenschläfer zur Meteorologie sind in Wirklichkeit von einer sehr luftigen Beschaffenheit; eher dürfte das Studium dieser Legende für die Geschichte der volksthümlichen Naturkunde von Bedeutung sein, denn es führt uns nicht allein in das Reich der Phantasie, die so viele Kaiser, Könige, Ritter und holde Jungfrauen bei Elfen und Zwergen im Bergesschoß schlummern läßt, sondern es zwingt uns unwillkürlich zum Nachdenken über die sonderbarsten Lebensräthsel.

Zur Zeit, als Kaiser Decius im römischen Reiche regierte, so läßt sich der Inhalt der Legende[1] kurz zusammenfassen, wurden die Christen verfolgt, und der Kaiser begab sich selbst nach Ephesus, um dort die Verfolgung zu leiten. Unter denen, die sich weigerten, den heidnischen Göttern zu opfern, befanden sich auch sieben edle Jünglinge: Achillides, Diomedes, Eugenius, Stephanus, Probatius, Sabbatius und Cyriacus, Diener im Palaste des Kaisers. In ihrer Bedrängniß flohen sie aus der Stadt und verbargen sich in der Höhle des Berges Anchilus. Als Decius ihren Zufluchtsort ausgekundschaftet hatte, befahl er, den Zugang zu der Höhle mit großen Steinen zu verschließen, „daß sie lebend begraben seien und in jenem Kerker elend sterben.“ Aber der gnädige und gütige Gott ließ sie einen sanften Tod erleiden, indem sie schon vor der Ankunft des Kaisers in einen tiefen Schlaf verfielen.

Nach etwa zweihundert Jahren, zur Regierungszeit des Kaisers Theodosius, da man in Ephesus den Märtyrertod der sieben Jünglinge längst vergessen hatte, wollte ein begüterter Mann, dem der Berg gehörte, einen Stall für sein Vieh erbauen und ließ die Steine am Eingang der Höhle wegräumen. Da flößte Gott den Heiligen in der Höhle ein neues Leben ein. Sie erwachten, setzten sich aufrecht und begrüßten einander, wie sie gewohnt waren, denn sie sahen kein Zeichen, aus dem sie schließen konnten, daß sie so lange wie todt gelegen hätten; ihre Kleider waren noch in demselben Zustande wie zuvor, und ihre Leiber waren frisch und blühend. Daher glaubten sie, daß sie nur vom Abend bis zum Morgen geschlafen hätten, und sie waren in Angst und Sorge, daß der Kaiser Decius sie suchen lasse. Einer von ihnen entschloß sich indessen, in die Stadt zu gehen, um Brot zu kaufen. Er fand Ephesus verändert, auf allen Thoren glänzte das Kreuz, und er meinte, er habe den Verstand verloren. Als er mit der alten, in der Stadt nicht mehr gebräuchlichen Münze das Brot bezahlen wollte, wurde er verhaftet, und erst der Bischof, den er zu seinen Genossen in der Höhle führte, erkannte das Wunder Gottes. Selbst der Kaiser eilte von Konstantinopel herbei und ging zur Höhle, wo ihm die Heiligen mit strahlendem Antlitz entgegenkamen. Nachdem sie ihn aber gesegnet, legten sie ihre Häupter nieder auf die Erde und entschliefen und gaben ihren Geist auf nach dem Befehle Gottes. Der Kaiser ließ das Gewölbe mit Gold und kostbaren Steinen schmücken und über der Höhle eine große Kirche erbauen. –

Diese Legende, deren Inhalt im Laufe der Zeit manche Zusätze erhalten hat, ist eine der ältesten in der christlichen Kirche, denn sie wird schon in einem Vorgänger des Bädeker, in dem Reisebüchlein „Theodosius de situ terrae sanctae“, welches zwischen 520 und 530 für Besucher des Gelobten Landes verfaßt wurde, erwähnt; es heißt an einer Stelle desselben: „In der Provinz Asien ist der Stadtbezirk Ephesus, wo sich die sieben schlafenden Brüder befinden und zu ihren Füßen das Hündchen Viricanus.“

Aber nicht nur die Christen kannten diese Sage, auch Mohammed erzählt sie, wenn auch in zerrissener Form, im Koran, wobei er auf die verschiedenen Darstellungen eingeht, indem er mit den Worten schließt: „Einige sagen: drei waren ihrer, und ihr vierter war ihr Hund; andere sagen: fünf waren ihrer, und ihr sechster war ihr Hund, rathend über das Geheime; andere sagen: sieben waren ihrer, und ihr achter war ihr Hund. Sprich: mein Herr weiß am besten ihre Zahl, nur wenige sollen sie wissen. – Und sie verblieben in ihrer Höhle dreihundert Jahre, denen noch hinzugefügt wurden neun. – Sprich: Gott weiß am besten, wie lange sie dort blieben.“

Die Siebenschläfer oder die „Männer der Höhle“ und ihr Hund Kitmir werden bei den Mohammedanern als Schutzgeister der Schifffahrt verehrt und ihre Zeichen auf Schiffen eingeschnitten.

Gegen das Ende des 8. Jahrhunderts wird ähnliches auch aus Deutschland in Warnefrieds Langobardengeschichte erzählt. „Im äußersten Norden dieses Landes,“ heißt es darin, „am Ufer des Oceans schlafen in einer Höhle unter einem gewaltigen Felsen sieben Männer seit unbestimmt langer Zeit. Ihre Leiber sind jedoch unversehrt, wie auch ihre Kleider, und sie werden darum von den barbarischen Völkern jener Gegend verehrt. Nach dem Gewande zu urtheilen, müssen es Römer sein. Als jemand aus Habsucht einen von ihnen seiner Kleidung berauben wollte, da verdorrten ihm die Arme, durch welche Strafe die andern von einem solchen Wagniß abgeschreckt wurden.“

Auch bei anderen Völkern finden wir Sagen vom langen Schlaf. Im Talmud wird von Chone Hamagel erzählt, er habe einen Mann verspottet, der einen Johannisbrotbaum pflanzte, da dieser erst nach 70 Jahren Früchte trage. Chone Hamagel schlief darauf ein, und ein Felsen zog sich um ihn herum, unter welchem er 70 Jahre ungesehen in den Armen des Schlafes ruhte. Als er erwachte, pflückte der Enkel des Baumpflanzers die Früchte, und als er in sein Haus kam, fand er hier seinen Enkel als Herrn, da sein Sohn längst gestorben war. Er gab sich zu erkennen, fand aber keinen Glauben und sehnte sich nach dem Tode, der ihn auch bald darauf erreichte.

Auch Griechenland kannte berühmte Schläfer. Endymion erhielt von Zeus ewiges Leben in Gestalt eines ewigen Schlummers. In seiner Höhle besucht ihn allnächtlich seine Geliebte, die Mondgöttin Selene. Von Epimenides auf Kreta wird erzählt, daß er einst von seinem Vater ausgeschickt wurde, um ein verlorenes Schaf zu suchen. Er legte sich in einer Höhle nieder und verschlief hier 57 Jahre, und als er erwachte, suchte er das Schaf weiter; denn er glaubte, nur eine Nacht geschlafen zu haben. Er fand das Schaf nicht, aber er war glücklicher als Chone Hamagel; denn sein Bruder, der inzwischen ein Greis geworden war, erkannte ihn wieder, und Epimenides wurde als ein Liebling der Götter verehrt.

Sind alle diese Sagen der Alten nur Schöpfungen der Phantasie, oder liegen ihnen irgendwelche wirkliche Thatsachen zu Grunde? Man hat sie verschiedenartig gedeutet. Sehr beachtenswerth sind die Studien, welche J. Koch in seinem Werke „Die Siebenschläferlegende“ (Leipzig, Karl Reißner) veröffentlicht hat. Die Siebenschläfer, bei den Mohammedanern Schutzheilige der Schifffahrt, sollen seiner Ansicht nach an die phönicischen Kabiren erinnern, die bei diesem seefahrenden Volke gleichfalls die Schiffe beschützten und deren achter Bruder Esmun oder der Aeskulap war. Dieser göttliche Erfinder der Medizin, der die Kraft besaß, selbst die Todten wieder zu erwecken, hat neben der Schlange auch den Hund als sein Attribut, und unter seinen Heilmitteln befand sich auch der Schlaf. Kranke gingen in die Heiligthümer des Aeskulap, um durch den Tempelschlaf Heilung zu erlangen. War dieser Schlaf immer ein natürlicher oder wurde er künstlich von den Priestern erzeugt? Der Schleier, der über den medizinischen Mysterien aller Kulte ruht, ist ja kaum gelüftet, und vieles war in alten Zeiten wohl bekannt, was in unseren Tagen neu erscheint.

Auffallend ist es gewiß, daß uns die Forschung über die Schlaf-Legenden zum Gott der Medizin führt! Wir wollen daraus keine Schlüsse ziehen, aber wir wollen noch länger bei altersgrauen Religionen verweilen, um noch überraschendere Thatsachen zu erfahren.

Im 2. Jahrhundert v. Chr. trat in Indien Patanjali mit einer Lehre auf, welche die Bekenner des Brahma zu einer besonderen Art von Gottesdienst aufforderte. Die Inder, welche an die Seelenwanderung glaubten, fürchteten die Wiedergeburt,


  1. Die Einzelheiten, Namen der Märtyrer, des Berges, die Dauer der Zeit schwanken bei späteren Schriftstellern.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_370.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)