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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Ich fürchte, der Alte überlebt ihn nicht lange, sein Brief klang, als wäre er völlig gebrochen.“

„Mein armer Egon!“ Man hörte dem Tone Hartmuts an, wie tief und schmerzlich ihn die Erinnerung durchbebte. „Er war so voll sonniger Heiterkeit und Lebensfreude, so ganz geschaffen, Glück zu empfangen und zu geben. Vielleicht wärst Du an seiner Seite glücklicher geworden, Ada, als mit Deinem wilden, stürmischen Hartmut, der Dich noch oft genug quälen wird mit all den finsteren Schatten seines Wesens.“

Ada blickte, noch mit der Thräne im Auge, lächelnd zu ihm auf.

„Ich liebe aber nun einmal diesen wilden, stürmischen Hartmut und will kein anderes Glück, als sein Weib zu heißen! –

Wald und See ruhten in träumender Mittagsstille. Ernst und dunkel standen die alten Föhren, leise flüsterte das Schilf am Ufer und auf dem Wasserspiegel tanzten Tausende von strahlenden Funken. Darüber aber wölbte sich die strahlende Himmelsbläue, in die der Knabe einst hatte hinaufsteigen wollen, den Falken gleich, von denen sein Geschlecht den Namen führte, immer höher, der Sonne entgegen! Sie strahlte auch jetzt dort oben in leuchtender Pracht – das mächtige, ewige Flammenzeichen des Himmels!




Das Ulmer Münster in seiner Vollendung.
Von Dr. R. Pfleiderer.

„Ich muß hinauf, hinauf auf deine Höhen und mein Herz lüften auf deinem majestätischen Kranze.“ So klang es aus Fr. Daniel Schubarts Dichterbrust, wenn er während seines Ulmer Aufenthaltes 1775/77 an dem Münster der Stadt vorüberging, in dessen damaliger noch so ruinenhafter Gestalt er „die heiligen Spuren deutscher Kraft und deutschen Geistes“ bewundernd erkannte und dessen unvollendeter Hauptthurm erst bis zu 205 Fuß (59 Meter) sein schwarzgraues Haupt in die Lüfte erhob! Was würde der Mann, was würden unsere Vorväter und Väter, alle die in letzter Zeit Heimgegangenen, die es nicht mehr erleben durften, sagen, sähen sie jetzt den Ulmer Thurmriesen frei und schlank emporschießen in wunderbarer architektonischer Entwicklung bis zur Spitze und könnten sie von dem 143 Meter hohen Kranze des Helms, dem höchsten besteigbaren Punkt, hinabschauen in die Gassen, in die verstohlenen grünenden Hausgärtchen der alten Stadt und hinaus ins weite Donau- und Illerthal, bis wo an hellen Tagen die Berge der Alpen, vom Säntis bis zur Zugspitze, im blauen Dufte fern herübergrüßen!

Vollendet! Das Wort schließt eine fünfhundertdreizehnjährige Baugeschichte ein, eine lange Flucht von Jahren der Arbeit, des Stillstands, der Verheerung, des Todesschlafs und endlich des herrlichen Wiederauferstehens des Ulmer Münsters, wie der Dichter Ed. Paulus davon singt:

„Das Wunder, das wir kaum geahnt im Liede,
Darf nun versteinert in den Himmel streben.“

Folge mir, geneigter Leser, in die altersgraue Vorzeit, in jenes 14. Jahrhundert, da man noch keine gedruckten Bücher kannte, aber um so gewandter und freudiger die Waffen gebrauchte, da die aufstrebenden Städte mit den Landesfürsten erbitterte Kämpfe führten, und doch, von dem tiefgewurzelten idealen Sinne des Mittelalters getragen, die gewaltigste aller Künste mächtig blühte und gepflegt wurde: die Baukunst. Schon standen oder stiegen empor die glänzenden Kathedralen, mit welchen die Bischöfe und Erzbischöfe der Kirche ihre Sitze verherrlichen wollten und für welche ihre reichen Mittel flossen: die Münster zu Freiburg und Straßburg, der Dom zu Köln (gegründet 1248), sämmtlich in dem herrschenden gothischen Stil erbaut. In Ulm, der Freien Reichsstadt, welche damals ihre 20 000 bis 25 000 Einwohner zählte und nicht mehr, war kein solcher Sitz eines Kirchenfürsten, aber ein starker muthiger Bürgersinn, welcher beim allgemeinen Aufwärtsstreben der Stadt auch sein großes Gotteshaus haben wollte, sogut wie die Bischofsstädte, und am 30. Juni 1377 den Grundstein dazu legte. „Wir haben,“ sagt ein Kunsthistoriker, „im Ulmer Münster die großartigste Schöpfung des deutschen Bürgerthums des Mittelalters“; und wir dürfen hinzusetzen, daß die große Einfachheit der inneren und äußeren Anlage ohne Querschiff aus diesem Ursprung uns erklärlich, ja mehr noch, uns werth und lieb wird. Das Machtvolle, Gediegen-Einfache, Selbstbewußte, das in seiner massigen Wucht und ruhigen Hoheit des Zieraths nicht bedarf, dies ist der Haupteindruck des Ganzen, wenn wir von dem Hauptthurm zunächst absehen.

Es waren auch die Zeiten nicht mehr zur Entfaltung der ganzen Pracht des frühen Mittelalters. Bereits begann der ganze Stand der Dinge in den Grundfesten gelockert zu werden, und es klopfte die neue Zeit an die Pforte, welche in dem ungeheuren Umschwunge des nächstfolgenden, des 15. Jahrhunderts, der das Mittelalter zu Grabe trug, ihre Herrschaft antrat. Unter dieser Zeitlage und bei häufigem Wechsel der Baumeister – im ganzen sind es zehn – ging der Bau in Ulm immerhin verhältnißmäßig rasch von statten. Wir können vier große Bauperioden bis zum Stillstand des Werkes unterscheiden. Die erste und die dritte sind die produktiven, schöpferischen; sie sind bezeichnet durch zwei große Namen, welche als leuchtende Sterne in der Geschichte der Architektur glänzen und deren Klang durch das ganze deutsche Volk geht, dessen Stolz sie sind: Ulrich Ensinger und Matthäus Böblinger. Beide sind geborene Schwaben, Württemberger; aber ihr Ruf ging damals über den Rhein und die Alpen.

Helmspitze mit beiden
Kreuzblumen.

Der große Ulrich Ensinger trat urkundlich 1392 in Ulmer Dienste, als der Chor des Münsters mit dem Unterstock der beiden Seitenthürme (Chorthürme) – das Werk der beiden ersten Baumeister – schon fertig stand. Seine Schöpfung ist die ganze Anlage des ursprünglich dreischiffigen Langhauses mit dem Hauptthurm. Er selbst brachte nur die unteren Theile zur Ausführung, indeß das Amt des „Kirchenmeisters“ sich in seiner Familie forterbte auf den Schwiegersohn und Enkel Hans und Kaspar Kun, dann den Sohn und Enkelsohn, Matthäus und Moritz Ensinger, welche die Weiterführung im 15. Jahrhundert leiteten. Aber als kostbares Erbe hinterließ Ulrich, der 1399 die Bauleitung am Münsterthurm von Straßburg übernahm und 1419 dort starb, den Plan des Hauptthurms bis zum Viereck, dessen erstes Drittel er selbst ausführte.


Der außerordentlich geniale Entwurf dieser Hauptzierde des Ulmer Münsters gehört Ulrich von Ensingen. Darum ist auch die Verwandtschaft des Straßburger mit dem Ulmer Thurm so in die Augen fallend. Auf breiter Grundlage mit weit vorspringenden Hauptpfeilern strebt dieser aufwärts. Das Problem der Entwicklung, der architektonischen Auflösung der Massen erscheint in vollendetster Weise gelöst. Wo an den Kölner Domthürmen die Vertikale, d. h. die Richtung nach oben ganz einseitig vorherrscht, zeigt sich hier die Längsrichtung durch die wagerechten Brustwehren der drei Stockwerke des Vierecks angenehm unterbrochen. Das große Fenster, das hier statt der Rose in die Fassade eingesetzt ist, bringt den Zug nach oben dagegen wieder aufs entschiedenste zur Geltung. Und diesem Riesenfenster – von der Glasmalerei „Martinsfenster“ benannt – wie den oberen ist jenes leichte Stabwerk vorgelegt, welches man auch am Straßburger Thurm findet und welches die inneren Oeffnungen mit einem zauberhaften, phantastisch wirkenden Netzwerk überspinnt. Der ganze Thurm ist von reichster Fülle ausschmückender Pflanzenornamente der Spätgothik überzogen. „Kein Thurm der Welt, einschließlich St. Stefan zu Wien und die Kölner Thürme, zeigt einen so verschwenderischen Reichthum und so unvergleichliche Ornamentik wie der Ulmer, er ist der Thurm der Thürme.“ In die weit vorspringenden Pfeiler am Fuß ist eine gewölbte Portalhalle eingelegt, welche den mit Statuen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_444.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2021)