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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

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Zur 75jährigen Jubelfeier der deutschen Burschenschaft.

Von Georg Winter.


Das fröhliche und doch zugleich ernste Fest, welches in diesen ersten Augusttagen die alten und jungen Burschenschafter aller deutschen Universitäten in dem anmuthigen Musensitze an der Saale, dem poesieumwobenen Jena, begehen, ist nicht nur für das deutsche Universitätsleben von Bedeutung, es ist zugleich ein nationales Erinnernngsfest für das ganze deutsche Volk. Das geistige Leben an den deutschen Hochschulen ist zu allen Zeiten in gewissem Sinne ein Spiegelbild des deutschen Volkslebens gewesen; alle großen geistigen Bewegungen, von Huttens und Luthers Tagen bis auf unsere Zeit, sind entweder unmittelbar von den deutschen Hochschulen ausgegangen oder haben doch in ihnen einen lebhaften Widerhall, gleichsam den geistigen Brennpunkt gefunden. Niemals aber ist das in höherem Maße der Fall gewesen als in jener großen Entwickelungs- und Erziehungsperiode, deren das deutsche Volk bedurfte, ehe es sich zur nationalen Einigung hindurchrang, in den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen, da der von den Regierungen mit Hohn zurückgewiesene und mit allen Mitteln der Gewalt niedergehaltene nationale Einheitsgedanke trotz aller Bedrückungen in den Besten des Volkes fortlebte und erstarkte und so die feste ideale Grundlage wurde, auf welcher der größte Staatsmann unseres Jahrhunderts den hehren Bau der deutschen Reichseinheit errichten konnte, indem er den im Volke lebenden idealen Kräften den festen Rückhalt der staatlich-politischen Macht hinzugesellte. Daß an dieser Vorbereitungsarbeit, an dieser Erweckung und Erhaltung des nationalen Gedankens der vor nunmehr 75 Jahren auf der Hochschule zu Jena gegründeten deutschen Burschenschaft ein hervorragender Antheil gebührt, daß in ihr das von den bestehenden Gewalten mit rücksichtsloser Strenge verfolgte nationale Einheitsstreben die hauptsächlichste Zufluchtsstätte fand, wird heute von keinem gerecht urtheilenden Geschichtschreiber mehr geleugnet. Nur über Maß und Bedeutung dieses Verdienstes der in den Burschenschaften zusammengefaßten studierenden Jugend Deutschlands kann jetzt noch Meinungsverschiedenheit obwalten. Während mancher eifrig schwärmerische Verehrer der burschenschaftlichen Bestrebungen geneigt ist, das dereinst inmitten der Aufregung des Kampfes um den nationalen Gedanken gesprochene kühne Wort: „Die Geschichte der deutschen Burschenschaft ist die Geschichte des deutschen Volkes“ vollkommen wörtlich zu nehmen, fehlt es auf der andern Seite auch heute noch nicht an solchen, welche in der leidenschaftlichen Theilnahme der studierenden Jugend an der Frage über Sein oder Nichtsein der deutschen Einheit nur ein Ueberschreiten der den akademischen Kreisen gezogenen Grenzen erblicken, welche nur das Ueberschwängliche der in ihrem Grundtriebe edlen und idealen Bewegung wahrnehmen wollen und daher mehr oder minder geneigt sind, in der alten Burschenschaft einen Bund von radikal politischen Verschwörern zu sehen.

Scheidler als Student.
Nach einem der „Arminia“ gehörigen Bilde.

Ohne alle Frage aber muß es doch jetzt, da wir auf die Gründung der deutschen Burschenschaft als auf ein längst vergangenes Ereigniß zurückblicken, da wir die Einheitsentwickelung von ihrem verwirklichten Zielpunkte bis zu ihrem Ausgange übersehen können, möglich sein, zu einer gerechten geschichtlichen Auffassung über die Bedeutung der Burschenschaft für die Entwickelungsgeschichte des deutschen Nationalbewußtseins zu kommen. Zu diesem Zwecke müssen wir den Leser bitten, sich mit uns die Haupterscheinungen dieser Geschichte des nationalen Gedankens zu vergegenwärtigen.

Kein anderes der neuzeitlichen Kulturvölker hat einer so langen und kämpfereichen Erziehung bedurft, um zur staatlichen Einheit zu gelangen, als das deutsche. Wohl hatte die Zerrissenheit und Ohnmacht des einst in der alten Kaiserzeit so mächtigen Vaterlandes schon lange vor dem Beginne unseres Jahrhunderts einzelne erleuchtete Geister mit Scham und Entrüstung erfüllt. Schon im 17. Jahrhundert hatte Samuel von Pufendorf in patriotischem Schmerze die deutsche Reichsverfassung für ein eines großen Volkes unwürdiges „Monstrum“ erklärt. Aber das Streben nach einer Besserung dieses Zustandes war doch eben nur in wenigen vorhanden; die Masse des Volkes hatte sich durch jahrhundertelange Gewöhnung in die Ohnmacht und Zerstückelung des Gesammtvaterlandes hineingefunden. Es fehlte ihr vor allem an einem gemeinsamen geistigen Besitzthum, nachdem die große Errungenschaft Martin Luthers in kleinlichen theologischen Zänkereien verzettelt worden war. Erst im 18. Jahrhundert erwuchs dem zertretenen und von allen anderen Nationen als Spielball der Politik benutzten Volke in der reichen Blüthe der Litteratur jenes gemeinsame Besitzthum, das ihm gemangelt hatte. Zu gleicher Zeit aber bildete sich in dem von einem genialen Herrscher geleiteten preußischen Staate der Grundstock einer staatlichen Macht, an die sich eine nationale Entwickelung hätte anlehnen können.

Die beiden Grundelemente einer solchen, ein großer, gemeinsamer geistiger Besitz und die Machtmittel eines kräftig sich regenden Staatswesens, waren vorhanden, aber sie fanden noch nicht die gemeinsamen Berührungspunkte, die ein Zusammenwirken hätten ermöglichen können. Wohl regte sich auf beiden Seiten eine Ahnung von der inneren Zusammengehörigkeit, von dem nationalen Kern, welcher beiden gemeinsam sei. Der junge Goethe äußerte, durch die großen Heldenthaten Friedrichs sei der deutschen Litteratur erst ein nationaler Lebensinhalt gegeben worden, und lebhaft schildert er in seinen Lebenserinnerungen die Begeisterung, welche in weiten Kreisen seiner Vaterstadt für den großen Preußenkönig herrschte. „Wir waren Fritzisch gesinnt; denn was ging uns Preußen an?“ In diesen Worten liegt doch ohne Frage eine Ahnung der Erkenntniß, daß das Wirken und Schaffen Friedrichs des Großen nicht bloß Preußen, sondern der ganzen Nation zu gute komme. Auch Friedrich selbst hat von seinem nationalen Beruf, wie von der Bedeutung eines gemeinsamen literarischen Besitzes für die politische Entwickelung des deutschen Volkes ein klares Bewußtsein gehabt. Wohl hat er, der die bestimmenden Einflüsse seines Lebens vor dem Morgenroth der neuen Litteratur in sich aufgenommen hatte und infolgedessen naturgemäß ein Verehrer der Litteratur des westlichen Nachbarvolkes geworden war, dem neuerwachenden geistigen Leben keine Beachtung und Theilnahme gewidmet, aber in seiner Schrift „Ueber die deutsche Litteratur“ vergleicht er sich selbst mit Moses, der nur von fern das gelobte Land habe schauen dürfen, und spricht die Zuversicht aus, daß nach ihm eine Zeit kommen werde, in der es auch dem deutschen Volke vergönnt sein werde, Großes und Edles auf litterarischem Gebiete zu leisten. Daß diese Zeit, als er dies niederschrieb, bereits längst angebrochen war, hat er nicht geahnt. Zum ersten Male erscheint uns hier jener tragische Zug in unserer nationalen Entwickelung, daß die beiden großen Grundformen derselben, die nationale geistige Bewegung und die in der Bildung begriffene politische Macht, unverstanden nebeneinander hergehen.

Den großen, wenn auch sehr unfreiwilligen Dienst, eine erste Annäherung dieser beiben Wurzeln der deutschen Einheit zu ermöglichen, hat Napoleon I. dem deutschen Volke geleistet. Der frevelhafte Plan einer auf der Vernichtung bez. Unterdrückung der einzelnen Nationalitäten aufgerichteten Weltherrschaft rief einen nationalen Gegenschlag hervor, welchem der gewaltige Verächter der geistig

sittlichen Kräfte des Volkslebens erlegen ist. Die furchtbare Schmach der Fremdherrschaft verlieh der bisher rein litterarisch-geistigen Bewegung die Fähigkeit, sich in eine sittlich-politische zu verwandeln. Aus dem gemeinsamen litterarischen Besitz wurde ein stark ausgeprägtes, klar erkennbares Nationalbewußtsein,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_528.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2023)