Seite:Die Gartenlaube (1890) 540.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

in der Hand hielt, und sie gab sich nicht die Mühe, es genauer zu betrachten.

„Der vorige Miether der Wohnung wird es vergessen haben, Frau Pahler,“ sagte sie müde, „wir wollen uns später bemühen, seine Adresse zu erfahren, damit es ihm zurückgegeben werden kann.“

„Na ja, ich stelle es einstweilen hier vor den Spiegel. Staat könnten wir ohnedies nicht damit machen. Es war lose in altes zerrissenes Papier gewickelt; ich habe es zwar schon sauber abgeseift; aber es bleibt darum doch eine scheußliche alte Schmiererei.“

Sie ging hinaus, und Marie hörte wie im Traum, daß sie draußen in der Küche geräuschvoll mit Tellern und Gläsern wirthschaftete. Nicht ein erquickender Schlummer, doch etwas wie eine stumpfe Betäubung legte sich allgemach auf ihre Sinne, und auch das that ihr wohl. Denn es brachte doch immerhin, was sie jetzt am meisten ersehnte: Empfindungslosigkeit und Vergessen!

Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als plötzlich ein ungewöhnlich lauter und schriller Klang der Wohnungsglocke dem dämmernden Traumzustande ihres Geistes ein Ende machte. Brummend schlürfte die Aufwärterin über den Gang nach vorn, um zu öffnen. Ein kurzer Wortwechsel, der nicht länger währte als eine halbe Minute, ließ sich vernehmen; dann wurde die Thür des Zimmers ungestüm aufgestoßen, und eine schlotternde Gestalt, deren gräßlich verzerrtes Antlitz kaum noch etwas Menschliches hatte, stürzte mit erhobenem Armen vor Marie in die Kniee.

„Heilige Madonna, sei mir gnädig!“ rang es sich heiser und keuchend von den leichenhaften Lippen. „Bitte für mich – bete für mich – breite Deine Arme über mich, wenn die schwarzen Teufel kommen und mich packen wollen! – Sieh, ich habe es Dir dargebracht, Dein Bild, Dein göttliches Bild! – Mit Gefahr meines Lebens habe ich es ihnen entrissen, für Dich – für Dich! – Ich habe Dich ja erkannt in Deiner Verkleidung und ich lache über die Verblendeten, die den himmlischen Glanz nicht sehen um Dein göttliches Haupt. Und die Rosen – hier sind sie – da – dort – überall! Heilige Madonna im Rosenhag, nimm mich in Deinen Schutz!“

Sein Oberkörper neigte sich vornüber und seine Stirn schlug dumpf auf den Fußboden auf.

„Allmächtiger Gott, ein Verrückter!“ schrie die Aufwärterin, welche bis dahin sprachlos auf der Schwelle der offenen Thür gestanden hatte. „Kommen Sie, Fräulein, kommen Sie, wir holen die Polizei!“

Aber Marie rührte sich nicht. Auch sie war durch das Entsetzen gelähmt worden beim Anblick des Unseligen, der den unbegreiflichen Muth hatte, sich noch einmal in ihre Nähe zu drängen, auch sie hatte beim Beginn seiner wirren Rede das Verlangen gehabt, zu entfliehen und um Hilfe zu rufen. Doch das bejammernswerthe Aussehen des Unglücklichen, der unbeschreiblich angstvolle, flehende Blick seiner tief eingesunkenen Augen hatte ihr die Lippen verschlossen. Und nun wurde das Mitleid in ihrer Seele mächtiger als die Furcht.

„Nein, Frau Pahler,“ sagte sie, „wir brauchen die Polizei nicht, wir brauchen nur einen Arzt. Ich kenne diesen Herrn und weiß, daß ich nichts von ihm zu befürchten habe. Er ist nicht wahnsinnig, aber er ist sicherlich schwer krank. Darum eilen Sie, uns eine ärztliche Hilfe zu beschaffen!“

„Und Sie wollen unterdessen mit ihm allein bleiben? Ach, Du lieber Gott, Fräulein, was haben Sie für Muth! Das thäte ich nie und nimmermehr!“

„Aber so gehen Sie doch!“ drängte Marie. „Je schneller Sie zurückkehren, desto eher wird diese entsetzliche Lage ein Ende haben!“

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Meyringen und die Aareschlucht.

Von Karl Born.0 Mit Abbildungen von R. Püttner.

Pustend und keuchend windet sich das Dampfroß mit seinem langen Schweif von Wagen den Berg hinauf, die Paßhöhe des Brünig zu gewinnen. Morgens früh haben wir das herrliche Luzern am Vierwaldstättersee verlassen, sind, um diesen auch richtig zu genießen, zu Schiff nach Alpnach-Stad gefahren und haben erst dort die Bahn bestiegen, die in ununterbrochener Linie Luzern mit dem schönen Berner Oberland verbindet. Im Fluge haben wir das liebliche Unterwaldner Ländchen durcheilt und seine Reize vielfach besprochen; – nun ein Pfiff, und „Brünig“ schallt’s aus dem Munde des Schaffners.

„Zwanzig Minuten Aufenthalt. Restauration am Bahnhof!“

Flugs sind mein Freund und ich zum Wagen hinaus, um unserer Kehle irgend ein Labsal zu verschaffen; haben wir doch schon mehr als zwei Stunden den edlen Gerstensaft entbehren müssen!

Aber welches Unerhörte ereignet sich da! Gebannt vom Anblick, der sich uns bietet, bleiben wir stehen. „Schau,“ ruf’ ich aus, „da drüben das Rosenlaui mit den gigantischen Wetterhörnern, dem silberschimmernden Wellhorn und dem prächtig blauen Gletscher!“

„Wirklich ganz nett,“ sagt er, – und „magnifique“, „beautiful“ tönt’s rings um uns herum von den Zungen der verschiedensten Erdensöhne und -töchter – „aber nun zum Frühschoppen!“

Eingang in die Aareschlucht.

Bald darauf geht’s mit dem Zug bergab weiter; der steilen Thalwand entlang hat moderne Eisenbahntechnik der Fahrt den Weg geebnet; nur noch einige Minuten; schon kommen wir durch liebliche Baumgärten an reizenden Holzhäuschen vorbei, und nun hält der Zug vor dem schmucken Bahnhof Meyringen. Nach getroffener Verabredung senden wir unsere bescheidenen Gepäckstücke nach dem Hotel „Reichenbach“ voraus und machen uns alsbald an die Besichtigung des lieblichen Dorfes. Wir überschreiten die Hauptstraße, an der heimelige Wohnhäuser mit Schnitzwaren und anderer Oberländer Industrie in den zum Verkaufe eingerichteten Erdgeschossen mit schmucken Gasthöfen wechseln, und biegen in die malerische Dorfgasse ein, die mit ihrem landschaftlichen Hintergrund, gebildet von den Wasserfällen des Mühle- und Alpbaches, geradezu einzig in ihrer Art ist. Wir besichtigen die Kirche und den von ihr getrennt stehenden Thurm, der noch aus uralter Zeit stammt, beschauen vor dem Dorf die zerfallene Burg Resti, um dann von dort weg unsere Schritte quer durch das liebliche Thälchen nach dem gastlichen Hotel „Reichenbach“ zu lenken. Etwa 400 m oberhalb desselben stürzt der aus dem Rosenlaui kommende Reichenbach zum ersten Male mit fürchterlichem Getöse in die Tiefe, auf seinem Weg ins Thal noch eine ganze Anzahl von größeren und kleineren Fällen bildend, von denen besonders der unterste durch seine Schönheit weltberühmt geworden ist. Noch mehrere Bäche sollen weiter thalabwärts von den Flühen, wie zarte Schleier sich dem Auge bietend, vom Winde schaukelnd hin und her bewegt.

„Wahrhaftig,“ ruft mein Begleiter aus, „Meyringen ist mehr denn ‚Lauterbrunnen‘; es ist ‚lauter Bach‘!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_540.jpg&oldid=- (Version vom 17.11.2023)