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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Das sind weite Ausblicke, und Prof. v. Miller verhehlt sich nicht, daß die Schnitter für die reife Saat zaudern werden, daß allerdings zuletzt die Wahrheit siegen, aber der Verlauf der gewöhnliche sein dürfte: zuerst Achselzucken über den lächerlichen Phantasten, der dem Adler gleich die Luft durchsegeln wolle, und zuletzt Bewunderung irgendeines Ausländers, der die Sache in Schwung bringen werde. Hoffen wir, daß sich diese Annahmen nicht bewahrheiten, sondern daß sich auch unter uns Deutschen Leute finden, welche zur Erprobung des Miller-Hauenfelsschen Gedankens hilfreiche Hand bieten. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Ausführungen des gelehrten Grazer Mathematikers, so weit dies in allgemein verständlicher Form geschehen konnte, dem großen Leserkreise dieses Blattes vorzuführen unternahm. Natürlich kommt alles auf die Ausführung an, denn wenn irgend wo, so gilt für das Gebiet der Luftschiffahrt die alte Wahrheit: „Probiren geht über Studieren!“


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Das „Schachdorf“ Ströbeck.

Der Schachthurm.

Wer von der alten Bischofstadt Halberstadt aus mit der Eisenbahn einen Ausflug in den Harz, z. B. nach Wernigerode, unternimmt und seine Blicke nach Nordwesten hin schweifen läßt, wird schon nach wenigen Minuten einen Kirchthurm entdecken, dessen dunkle Spitze aus der im Norden vom Huywalde begrenzten Ebene hervorragt. Bald tauchen einzelne Häuser empor, und jetzt wird ein stattliches Dorf sichtbar, das in der Nähe der Eisenbahn von Süden nach Norden am Abhange einer mit Birken bestandenen Anhöhe, dem sogenannten Hackenberge, sich hinzieht.

Es ist das Dorf Ströbeck, welches, einzig in seiner Art, seit Jahrhunderten eines großen Rufes sich erfreut, nicht nur in unserm deutschen Vaterlande, sondern weit darüber hinaus in allen civilisierten Ländern diesseit und jenseit des Oceans. Zwar ist weder ein berühmter Staatsmann oder Gelehrter aus seinen Mauern hervorgegangen, noch sind blutige, männervertilgende Schlachten auf seinen Gefilden geliefert worden, aber noch heute wird jahraus jahrein in dem sonst so friedlichen Dorfe wacker gekämpft und viele Schlachten werden geschlagen, Schlachten – auf den 64 Feldern des schwarz-weißen Schachbretts. So ist es von alters her gewesen, so wird es hoffentlich lange noch bleiben! Ströbeck ist auf der ganzen Welt das einzige Dorf, wo das edle Schach gepflegt und von alt und jung, von Männlein und Fräulein gespielt wird; und von jeher haben die Ströbecker ihren Ruf als tüchtige Schachspieler zu wahren und zu mehren gewußt.

Schon von Kindesbeinen an wird das „königliche Spiel“ erlernt, zwar nicht in der Schule, wie man früher irrthümlich annahm, sondern daheim unter der Leitung der Eltern und Geschwister; wohl aber findet alljährlich zu Ostern nach Beendigung der Schulprüfung unter den Augen des Predigers und der Lehrer, sowie des Ortsvorstandes ein Schachturnier der Kinder statt, und die aus demselben als Sieger hervorgehenden drei Knaben und drei Mädchen erhalten in Ströbeck angefertigte Schachbretter mit der Inschrift: „Zur Belohnung des Fleißes“. Ströbeck hat seinen Männer- und Frauenschachklub, und der im Gasthof „Zum Schachspiel“ einkehrende Wanderer kann des Sonntagnachmittags die biederen Ströbecker mit ernsten Mienen bei einer „Partie“ sitzen sehen und, wenn er selbst des Spieles kundig ist, wohl auch einen Gang mit ihnen wagen. Aber wehe, wenn er nicht sattelfest ist! Bald wird er in den Sand gestreckt und unter dem Schmunzeln des Gegners und der Zuschauer „matt gesetzt“.

Diese sonntäglichen Partien sind neben dem Kartenspiel gewissermaßen die Erholung von den Beschwerden und Mühen des alltäglichen Berufes; denn die Bewohner des etwa 1250 Seelen zählenden Dorfes treiben fast alle Ackerbau und erfreuen sich bei dem ertragreichen Boden mehr oder minder einer gewissen Wohlhabenheit. Daher macht denn das Dorf selbst auch einen freundlichen und stattlichen Eindruck; die Wohnhäuser und die Wirthschaftsgebäude sind massiv und in gutem Zustande, die Straßen gepflastert und sauber gehalten. Ungefähr in der Mitte des Dorfes, an der Westseite, steht die Kirche, deren Wetterfahne ein Schachbrett zeigt, während die Schule im Nordosten dicht am sogenannten „Markt“ liegt, dessen Südseite von dem „Gasthof zum Schachspiel“ begrenzt wird. An der bei diesem Gasthof nach Westen vorüberführenden Straße erblickt man einen kleinen, aus Sandstein erbauten und mit Ziegeln gedeckten, viereckigen Thurm, den sogen. „Schachthurm“, der in der Geschichte Ströbecks, wie wir unten sehen werden, eine wichtige Rolle spielte und noch heute zu den Sehenswürdigkeiten Ströbecks gehört. Ein in vieler Hinsicht so bedeutender Ort ist natürlich Post- und Telegraphenstation und Sitz eines Arztes.

Da Ströbeck zum „Harzer Schachbunde“ gehört, so wird seit 1885 alle fünf Jahre daselbst ein großer Schachkongreß in den letzten Tagen des Juni abgehalten; und auch dieses Jahr eilten von nah und fern die Jünger und Meister im Schach herbei, um in dem berühmten „Schachdorf“ im Turnier eine Lanze zu brechen.

Der geneigte Leser wird nun fragen: Wie kommt es, daß gerade in Ströbeck das Schachspiel eine so große Verbreitung gefunden und jung und alt in seinen Kreis gezogen hat? Auf diese wohlberechtigte Frage läßt sich leider nicht mit Sicherheit antworten, da die Geschichte über den Ursprung des Schachspiels in Ströbeck keinen Aufschluß giebt; nur die Sage berichtet uns zwei Begebenheiten, die wir nach den von dem Lehrer Karl Elis im Jahre 1843 herausgegebenen „kurzgefaßten historischen Nachrichten von Ströbeck“ hier wiedergeben:

„Dem Bischof Arnulf von Halberstadt wurde im Jahre 1011 vom Kaiser Heinrich II. ein vornehmer Staats- und Kriegsgefangener, der Graf Guncellin, überwiesen, damit er ihn, ohne daß es jemand erfahre, in dem alten Thurm von Ströbeck, der noch jetzt im nördlichen Theile des Dorfes steht, so lange gefangen halte, bis ihm weitere Befehle darüber zugehen würden. Vielleicht sollte der Gefangene auch durch ein großes Lösegeld die Kriegskosten vermindern helfen. Die Bauern mußten nun immer abwechselnd bei ihm Wache halten, und da sie glimpflich mit ihm umgingen, so unterhielt er sich freundlich mit ihnen, schnitzte aus Langerweile Schachfiguren, fertigte ein Schachbrett an und ward, um sich die Zeit besser vertreiben zu können, nun der Lehrer im Schachspiel, worin er Meister war. Mit Lust und Liebe ergriffen die Bauern diese Gelegenheit, ein so schönes Spiel zu erlernen, und bald kannte man im Dorfe kein anderes Spiel mehr. Als der Graf nach längerer Zeit wieder in Freiheit gesetzt wurde, schenkte er den Bauern sein Schachspiel.“

„Vadder mit Rat!“

Eine andere Ueberlieferung ist folgende: „Als Bischof Burchhard II. auf seinem Zuge gegen die Wenden im Jahre 1068 einen vornehmen Wenden gefangen nahm, ließ er ihn in den Ströbecker Zwinger sperren und den Wenden bekannt machen, daß er ihn so lange gefangen halten werde, bis sie die Friedensbedingungen erfüllt und ein ansehnliches Lösegeld geschickt hätten. Dieser vornehme Wende lehrte die Ströbecker das Schachspiel und verkürzte sich dadurch die unangenehme Zeit seiner Gefangenschaft. Nach Unterwerfung der Wenden hielt der Bischhof auf einem weißen Rosse, das die Wenden wie einen Abgott verehrten und das er ihnen genommen hatte, seinen glänzenden Einzug in Halberstadt; der Wende aber kehrte in seine Heimath zurück, nachdem er die freundlichen Ströbecker reichlich beschenkt hatte. Das Spiel wurde nun vielfach bekannt, aber man nannte die Bauern ‚Wenden‘, wohl um die Herabwürdigung dieses von den Deutschen unterjochten Slavenstammes zu bezeichnen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_544.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2023)