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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Im Oktober 1831 kam der als Graf Leon verkappte Reichsgründer mit seinem Gefolge von 46 Personen an und wurde auf Rapps Veranstaltung mit Pauken, Trompeten, Hörnern und Pfeifen empfangen. Ganz Economy war in Freuden und Wonne, da nun die Zeit des Harrens und der irdischen Mühsal zu Ende sein sollte. Proli, der königliche Herr, der schöne Prophet mit dem bärtigen Christusgesicht, der feine, liebenswürdige Schwärmer, welcher das Glück der Menschheit in den Falten seines wallenden Gewandes trug, wurde von alt und jung als der Gottgesandte verehrt, und man bereitete ihm mit seinen Leuten ein so angenehmes Leben, wie er es beanspruchte.

Von den sechs Millionen irdischen Thalern sah man jedoch nichts, und bald merkte Rapp, daß er von einem abgefeimten Schwindler ausgebeutet wurde. Er konnte wohl nach gewissen Anzeichen schließen, daß Proli, nachdem er in Europa seine mystischen Pläne nicht hatte durchführen können, nur nach Amerika gekommen sei, um sich bei den schwärmerischen schwäbischen Bauern von Economy in Ansehen zu setzen, ihren Patriarchen zu verdrängen und dessen Gut sich anzueignen. Schon schwur auch ein Drittheil der Gemeinde mehr auf den Grafen Leon als auf den alten Rapp, und diesem wurde es wahrscheinlich, daß eine Revolution in dem heiligen Economy ausbrechen, der fremde Abenteurer als Usurpator sich an die Spitze seiner Anhänger stellen und das Kastell mit dem Bundesschatze stürmen werde. Da entschloß er sich zur rechten Zeit noch, so schwer es ihn auch ankam, in den Schatz zu greifen und sich von der Prolischen Einquartierung loszukaufen. Der schöne Prinz trieb die Abfindungssumme bis auf 105 000 Dollars, weil er etwa 250 Gemeindemitglieder mit sich nehmen wollte und diese ihren Antheil aus Rapps Kasse ausgezahlt erhalten mußten. Damit zog er endlich ab, um die Gründung seines himmlischen Reiches nach Philippsburg am Ohio, nur zehn englische Meilen von Economy, zu verlegen. Diese so gefährliche konkurrirende Nachbarschaft war natürlich dem schwäbischen Gottgesandten nichts weniger als angenehm; aber schon nach zwei Jahren wurde ihm die hohe Genugthuung, daß Prolis Kolonieversuch wie einst der Owensche schmählich verkrachte und der bankerotte Gründer dann auch spurlos verschwand.

Wie stand nun Rapp wiederum in den Augen der ihm treu Gebliebenen da! Waren ihm auch durch den Einbruch Prolis ein paar Hundert abtrünnig geworden und verloren gegangen, so hielt die verkleinerte Gemeinde doch desto zuverlässiger zu ihm. Sie fühlte sich noch inniger mit ihm und unter sich verwachsen, als Rapps Adoptivsohn Reichert 1834 starb und somit das gesammelte Vermögen, als Familienfideikommiß für ihn hinfällig, nach seinem Tode lediglich Gemeindeschatz werden mußte.

Fortan blieb auch die Kolonie von neuen Stürmen verschont, und trotz ihres fortschreitenden Rückgangs an Mitgliedern gedieh sie immer mehr. Mit dieser Thatsache mußten sich die Gemeindeangehörigen über die Täuschung bezüglich der Ankunft des Heilandes zur Eröffnung des tausendjährigen Reiches trösten. Am 7. August 1847 starb Joh. Georg Rapp als ein neunzigjähriger Greis in dem Glauben, daß sich doch nächstens seine Weissagung erfüllen werde, und in dem Bewußtsein, daß er seiner Aufgabe gerecht geworden sei und das Urbild einer christlichen Gemeinde wieder aufgestellt habe. Sein Werk blieb auch unerschüttert. Die paar Hundert Kolonisten von Economy, die noch vorhanden waren, zumeist Greise und Greisinnen, wollten in dem Glauben sterben, in dem sie gelebt hatten, und nichts an ihrem gewohnten und für sie wie geheiligten Dasein verändert wissen.

Rapp hatte vor seinem Tode auch für alles, was seinen Staat weiter erhalten sollte, gesorgt. Sein Nachfolger als erster Vorsteher war der ihm treu gesinnte Romelius Backer und nach diesem Jakob Henrici, auf deren Namen auch immer das Gemeindevermögen eingetragen wurde. Es wird neuerdings bis auf zwölf Millionen Dollars geschätzt, ohne daß freilich das streng bewahrte Geheimniß darüber früher enthüllt werden wird, als bis die kommende Auflösung der Gemeinde, das Aussterben ihrer heute nur noch in sehr kleiner Zahl bestehenden letzten Mitgliedschaft die Erbschaftsregelung erheischt, für welche ja eine ansehnliche Menge württembergischer Familien ihre Ansprüche schon vorbereitet hat. Das wird das Ende der Rappschen Schöpfung sein, welche dann die Dauer fast eines Jahrhunderts gehabt hat.

Aber die Reichthümer, welche durch die gemeinsame Arbeit vieler und durch die Enthaltung der einzelnen von jeglichem Luxus, ja selbst von den Freuden der Familie, gewonnen waren, blieben im Grunde ungenossen. Die Anziehungskraft dieses kommunistischen Stätchens erstarb denn auch mit denen, die seine Urheber waren und sich zu seiner Ermöglichung einer fast knechtischen Lebensweise unterworfen hatten. Sie kannten keine Armuth und Noth, aber sie waren arme Reiche. Der Kulturmensch erstrebt das materielle Wohlsein für sich und seine Familie, jedoch in möglichster individueller Freiheit, deren sich wohl einzelne aus persönlicher Liebhaberei oder aus religiöser Schwärmerei entschlagen mögen, welche aber die Gesellschaft im großen als erste Bedingung irdischen Glücks niemals aufzugeben bereit sein wird.


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Der Sprung im Glase.

Erzählung von Anton Freiherr v. Perfall.
 (Schluß.)
2.

Ein Jahr ist vergangen.

Auf der Kommandobrücke der „Laura“ steht Bill Lührsen, der Kapitän. Durch die sternenhelle Nacht leuchten die Watten in unsicherem Schein, dunkle Landmassen heben sich von allen Seiten aus dem flüsternden, kosenden Meere. Sein Grund ist hier gepflastert mit Schiffstrümmern und Leichen, ein Gewirr von Inseln, Untiefen, Klippen bereitet tausendfaches Verderben den Seefahrern; da braucht es eine sichere Hand am Steuer, und das Auge muß die Flamme der Leuchtschiffe, die schwankenden Richtungsbojen fest erfassen; jeder Irrthum bringt Verderben – Tod! Aber die Nacht ist ja hell und Bill Lührsen ein erfahrener Seemann, der die Küste kennt wie seine Tasche – und doch steht der Schweiß ihm auf der Stirn, trotz des steifen Nordost, und mit einer nervösen Unruhe läuft er hin und her, die auffallend absticht gegen seinen ersten Steuermann, der, die kalte Pfeife im Munde, mit eiserner Ruhe den unter buschigen Brauen verborgenen Blick auf die erleuchtete Kompaßplatte vor sich heftend, das Steuerrad lenkt. Das verwitterte Gesicht ist grell beleuchtet, die Gestalt im Dunklen, der steife Wind fährt klatschend um seinen Sturmhut.

Der Kapitän sieht jeden Augenblick nach dem leise sich bewegenden Zeiger unter dem Glase, geht dann wieder vor an die Brüstung und wieder zurück.

„Kommt es Dir nicht vor, Jansen, als kämen uns die Watten zu nahe?“ Sein bleiches, gar nicht seemännisches Antlitz kehrte sich dem hellen Streifen in der Ferne zu.

Jansen hob nicht den Kopf. „Alles in Ordnung, Kapitän!“

Bill begann wieder seinen Rundgang.

„Stopp!“ rief er plötzlich durch das Sprachrohr in den Maschinenraum.

Die Maschine arbeitete rückwärts, das Wasser schäumte um die Schraube, ein schriller Pfiff – ein Matrose sprang auf die Brücke.

„Lothen!“ klang der kurze Befehl.

Der Steuermann schüttelte den Kopf.

Das Loth sank in die Tiefe, viele Faden tief.

„Vorwärts!“ tönte der Befehl.

Bill athmete tief auf und lehnte sich weit über das Geländer.

Schwarze drohende Eilande lagen rings umher, hie und da blitzte ein Licht, er dachte an den gespenstischen Reiter von den Halligen, von dem Claus, der Richter, an seinem Hochzeitsabend erzählt hatte, an Rolf, den Kater, der eben da gesessen auf der Brüstung mit seinen feurigen Augen – er glaubte sie vor sich funkeln zu sehen – aber da waren es keine feurigen Augen, es war ein grünes, zersprungenes Glas. Der grüne Römer stand noch immer oben auf dem Schrank; Bill hatte ihn schon oft entfernen, in die Gosse werfen wollen, aber immer hielt ihn etwas davon ab. Wozu auch? Sie waren ja glücklich, was kümmerte ihn der Scherben!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_788.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)