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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(7. Fortsetzung.)


Ein gedrücktes Schweigen entstand, als die beiden alten Leute das Zimmer verlassen hatten. Nur der Donner grollte jetzt machtvoll, und über den Bäumen des Gartens, die sich im heftig losbrechenden Winde zu wiegen und zu werfen begannen, flammte der Blitz auf im bläulichen Zickzack, riß den wolkendüstern Himmel von einander und zeigte die bis dahin fast in Nacht getauchte Landschaft plötzlich in grellem Licht. Wie in Angst vor dem Unwetter duckten sich Gräser und Blumen zur Erde, und die hochstämmigen Rosen neigten die Häupter auf ihren langen Stengeln und ließen den jetzt mit aller Wucht herniederprasselnden Regen über sich ergehen. Durch die Lüfte fuhr ein hohles Sausen wie ein wilder Klageton, und wieder kam es allgewaltig im Donnerhall heran und löschte alles andere Geräusch und starb in der Ferne als dumpfes Zornesgrollen. –

Annie saß in einem niedrigen Rohrsessel neben Thekla und hatte ihres Verlobten Hand gefaßt; er stand ihr zur Seite und sah in das Wetter hinaus. Seine Braut sah ihm besorgt ins Gesicht. Machte nur das ungewisse Licht, das bleifarben zu den Fenstern hereinsah, sein Antlitz so fahlbleich? Und woran mochte er denken, während er so an ihr vorüber in den Aufruhr der Elemente hineinsah? Immer dieser schwere, weltentrückte Blick, der nichts mit seinem jetzigen Glück zu thun hatte, der zurückschaute – weit – weit zurück … was mochte er dort sehen? –

„Ist das Gewitter Dir unangenehm?“ fragte Annie ihn nach einer Weile zaghaft.

Er fuhr sehr heftig zusammen.

„Wenn Du so sagen willst – ja! Wenigstens macht es mich nervös. Du weißt“ – sprach er mit einem halben Lächeln, das etwas Erzwungenes hatte – „als Künstler habe ich das Recht, nervös zu sein!“

„Als Kind hatte ich Furcht vor dem Donner, denk’ nur!“ berichtete Annie. „Ich weiß es noch wie heute, – und Thea wird’s auch wissen, nicht wahr? – wie mein Vater mich einmal hier an derselben Stelle, wo ich jetzt sitze, auf seine Kniee hob, während es draußen noch viel ärger tobte als heute. Und ich fühlte sein Herz ruhig und gleichmäßig gegen mein kleines, verängstigtes Kinderherz schlagen, – ich kann höchstens sechs Jahre alt gewesen sein und er sagte mir, im Donner spreche Gott zu uns – er selber sei allgewaltig, darum auch seine Stimme, mit der er uns anrede – wir dürften aber darum nicht erschrecken, nur Ehrfurcht empfinden vor ihm. Und wie ich allmählich ruhiger wurde, fragte der Vater mich, ob ich mich noch fürchte – und ich sagte: ‚Nein – weil Du bei mir bist!‘ Da küßte er mich und hielt mich fest an sich und sagte zuletzt: ‚So denk’ immer, wenn Du den majestätischen Donner hörst, Dein Vater ist bei Dir und hält Dich an seinem Herzen.‘ – Das thue ich auch wirklich! Ich wollte, Du hättest unsern Vater gekannt, denn soviel ich Dir auch von ihm erzähle, ein rechtes Bild wirst Du doch schwerlich von ihm bekommen! Bitte, erzähl’ Du uns auch einmal recht ausführlich von Deinem Vater! Du hast das bisher noch nie gethan!“

Sie hatte freimüthig und unbefangen gebeten wie ein liebenswürdiges Kind, das der Erfüllung seines Wunsches zum voraus sicher ist. Um so mehr erschrak sie über seine Antwort.

„Wenn ich das bisher niemals that, so hatte ich meine Gründe dafür! Mein Vater war ein unglücklicher Mann, meine Kindheit freudlos, meine erste Jugend hoffnungslos vergiftet. Wenn Du mich liebst, frage mich nie mehr danach!“

Ein betäubender Donnerschlag brach los und überhob Annie der Antwort: sie hätte auch schwerlich eine gefunden, ihr liebliches Gesicht war blaß geworden, und wie schuldbewußt hielt sie die Augen gesenkt. Thekla aber sah unverwandt und aufmerksam in Delmonts Gesicht, und sie gewahrte dort den Ausdruck, dessen sie vorhin gedacht – den Ausdruck innern Kampfes, der alsbald an der innern Muthlosigkeit erlischt! – Er beugte sich jetzt herab und berührte mit seinen Lippen Annies Haar, küßte dann auch leise ihre Hand, als wollte er sie um Verzeihung bitten; sie lächelte ihm beruhigend zu, aber in ihren Augen stand ein besorgter Ausdruck.

An den Fensterscheiben troff der Regen gußweise hernieder; man vermochte nichts mehr draußen zu sehen, in solchen Strömen schossen die grauen Wasserstrahlen herab. Man hörte in den Pausen, die der Donner machte, nur das Aufklatschen des Regens auf die Zinkplatten der Fenstervorsprünge und das Sausen des Windes, der um das Haus stöhnte. Im Zimtner war es so finster, daß man hätte Licht anzünden können.

„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Thekla?“ fragte Delmont, da er die Kranke mit geschlossenen Augen sich in ihren Sessel zurücklehnen sah.

„Nichts von Belang, ich danke, Herr Professor!“ gab Thekla zurück. „Nur etwas Mattigkeit infolge der Gewitterschwüle von zuvor!“

Es war Annies steter Kummer, daß diese zwei Menschen, die liebsten, die sie hatte, nicht vertraulicher mit einander standen. Die förmliche Anrede, das steife „Sie“ verletzte ihr zärtliches Gemüth, aber umsonst war sie bestrebt gewesen, das zu ändern, ruhig und kühl hatte jedes der beiden den Vorschlag einer Abänderung, den sie jedem einzeln gemacht hatte, von sich gewiesen.

Im Hintergrunde des Zimmers knarrte leise eine Thür. Die alte Agathe erschien, ein dampfendes Glas in der Linken, das eine weißschäumende Flüssigkeit enthielt; mit der Rechten winkte sie Annie zu sich herüber.

„Du guter, alter Hausgeist hast mir richtig Eiergrog brauen müssen, im festen Glauben, ich hätte mich erkältet!“ rief das junge Mädchen lachend. „Kommst Du denn nicht näher mit Deinem Gebräu? Ich soll zu Dir kommen? Mir auch recht! Aber Agathe,“ – sie war inzwischen aufgestanden und hinübergegangen und flüsterte nun der Alten ins Ohr – „wirst Du denn gar nicht für meinen Verlobten sorgen?“

Die alte Frau warf den Kopf zurück.

„Ach, so einem Herrn schadet das bißchen Regen noch lange nichts. Aber Du, mit dem dünnen Sommerkleide und den leichten Halbschuhen … sie schlagen durch, die kleinen Schuhe, ich weiß es genau, sie haben Leder und Sohlen wie von Postpapier, und dazu die seidenen Strümpfe! Wenn Du Deine Alte noch ein bißchen lieb hast und nicht auf den Tod betrüben und ängstigen willst, dann bist Du mein süßes, artiges Vögelchen und trinkst Deinen Grog und wechselst in Deinem Zimmer die Fußbekleidung – ja?“

Annie sah in die treuen, besorgten Augen und nickte; mit einem freundlichen: „Gleich bin ich wieder da!“ gegen die beiden am Fenster verließ sie mit Agathe das Zimmer.

Noch nie war Thekla mit Delmont allein gewesen; immer war Annie als vermittelndes Element dazwischen getreten. Es war Thekla zu Sinn, als müßte sie ihn manches fragen, ihm vieles sagen aber es würde nichts nützen, er war der Mann nicht, zu antworten, wenn er nicht wollte. Da sie ein gleichgültiges Gespräch mit leeren Redensarten nicht führen wollte, so schwieg sie lieber ganz.

Er beobachtete sie von der Seite, wie sie erschöpft und blaß mit übereinandergelegten Händen in ihren Kissen ruhte, in keinem einzigen ihrer scharfgeschnittenen, frühgealterten Züge die flüchtigste Aehnlichkeit mit der jungen, schönen Schwester zeigend. Die Stirn trat, wie von vielem Denken herausgearbeitet, in fester Wölbung hervor, die Augen sahen klug und überlegend drein, um die Lippen lagerte ein scharfer Schmerzenszug – aber Theklas Blick schien beständig zu sprechen: „Bemitleidet mich nicht, ich weiß damit nichts anzufangen!“

Plötzlich unterbrach Delmont das drückende Schweigen mit den Worten:

„Nicht wahr, ich bin Ihnen als zukünftiger Schwager unwillkommen?“

So ganz aus Theklas tiefinnerster Stimmung heraus hatte er gesprochen, daß sie ihm, nicht im mindesten überrascht, ruhig antwortete:

„Nein – vielmehr ja – meiner Annie dereinstigen Mann hatte ich mir anders vorgestellt!“

Er hatte ein spöttisches Lächeln um die Lippen.

„Es thut mir leid, diesem Ihrem Phantasiegebilde nicht zu entsprechen – wie sah dies aus, wenn ich fragen darf?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1890, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_806.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)