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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 8.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.
Roman von W. Heimburg.
(7. Fortsetzung.)


Hildegard erschrak förmlich, als Tante Polly sie am Mantel zupfte und ihr bedeutete, daß sie aussteigen wollten. Sie schob sich wie im Traum hinter der kleinen starken Frau her durch das rege Weihnachtsleben auf der Straße. Was ging sie das alles an? Sie mochte sie kaum sehen, diese lachenden Gesichter von jung und alt, diese bepackten Menschen, diese Buden, diese Christbäume, und sie stieß zornig einen kleinen Knirps zur Seite, der sich mit bunten Papiersternchen an sie drängte und unermüdlich sein: „Nur zehn Pfennig! Es sind die letzten, guteste Dame!“ rief. Der Kleine taumelte rückwärts und die Thränen stürzten ihm aus den Augen. „Nun, nun!“ meinte ein stattlicher Mann und stellte den Jungen auf die Füße, „der kleine Kerl ist doch kein Stück Holz!“ Als er aber das blasse Mädchengesicht gewahrte mit den dunkeln Augen, die förmlich versteint schienen in zorniger Lebensverachtung, verstummte er, und eilig weiterschreitend murmelte er: „Donnerwetter, die sieht desperat aus!“

Tante Polly bemerkte es nicht, wie das Mädchen, wenn man vor diesem oder jenem Schaufenster stehen blieb, mit den Füßen ärgerlich das Trottoir klopfte, sie bemerkte die Blässe und die zusammengepreßten bläulichen Lippen erst, als sie wieder aus dem Fischladen trat, wo sie den winzigsten Karpfen erhandelt hatte, der jemals gefangen sein mochte.

„Große Güte, was hast Du denn nur?“ fragte sie.

„Heimweh!“ war die kurze Antwort.

„Heimweh? Du?“ rief Tante Polly ungläubig, und als Hilde schwieg, setzte sie hinzu: „Da hätt’ ich auch eher gedacht, daß der Himmel einfällt, als daß Du Heimweh bekommst.“

Aber Tante Polly mußte es wohl schließlich glauben, denn die Nichte saß so bleich und still in dem kleinen Wohnstübchen, hörte so wenig auf die verheißungsvollen Anspielungen vom Weihnachtsmann, der diesmal aus „Reichenbach“ komme, daß die Tante seufzend und kopfschüttelnd das winzige Tannenbäumchen in der guten Stube mitten unter den Farben und Skizzenbüchern Hildegards anputzte und sich gestand, ganz allein an solchem Abend sei doch noch besser als mit jemand zusammen, der so unwirsch und unartig sei wie ihre Nichte.

Von den Zweidorfs aus Altwedel war ein Kistchen angelangt, Tante Polly setzte es auf den Tisch unter das Bäumchen und fügte noch einige Paare selbstgestrickter Strümpfe hinzu, dann ging sie in die Küche und richtete ihren winzigen Karpfen zu. Mit Dunkelwerden wollte sie die Lichter anzünden.

Hilde blieb regungslos in der Stube; sie hatte nicht gelogen, sie hatte Heimweh oder bildete sich wenigstens ein, es zu haben. Sie dachte, wie jetzt die Mutter mit ihren paar


„Es ist eine alte Geschichte –“
Nach einem Gemälde von G. Tyrahn.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_117.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2021)