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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Er kam, verdrießlich und mißgelaunt. „Du willst fort?“ fragte er.

„Ja!“ antwortete sie.

„Ich muß vorher noch Fräulein von Zweidorf nach Hause begleiten.“

„Du?“

„Wer sonst?“

„Gut!“ sprach sie fest, „aber gestatte, Leo, daß ich mitfahre und dann gleich weiter mit Dir, ich bin nicht imstande, länger hier zu bleiben.“

Er lachte kurz auf. „Wenn es Dir Vergnügen macht!“ antwortete er, „ich werde auch Maiberg noch zu dieser Extrapartie einladen.“

Sie erröthete jäh; in diesem Augenblick hatte sie nicht an Eifersucht gedacht, sie empfand nichts weiter, als das Verlangen von hier fort zu kommen.

Nach wenigen Minuten saßen sie in dem Landauer. Antje fühlte noch die leise schmeichelnde Abschiedsberührung der Baronin auf ihrem Arme. „Es ist wirklich außerordentlich nett von Ihnen, Frau Jussnitz, daß Sie so mütterlich für die Kleine sorgen.“

(Fortsetzung folgt.)




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Unschuldig verurtheilt!

Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. 0Neue Folge. 0II.
Das eigne Kind als Ankläger seiner Eltern. – Ein falsches Geständniß zur eignen Rettung. – Der Beweis des Alibi. – Der Prozeß Ziethen-Wilhelm in Elberfeld: Schuldig oder Nichtschuldig?

Von den Opfern falscher Anzeigen sind sicher diejenigen die bemitleidenswerthesten, denen das eigene Kind als falscher Zeuge entgegentritt. Nachdem wir unseren letzten Artikel (Nr. 1 dieses Jahrgangs) mit einem Fall beschlossen, wo der Leichtsinn von ein paar Schulmädchen genügt hatte, um einen Unschuldigen durch falsche Aussage in Schmach und Unglück zu bringen, beginnen wir heute mit einem Beispiel, das ein Kind als falschen Ankläger der eigenen Eltern zeigt. Diese Art Fälle sind keineswegs so selten, wie man glauben sollte; schon in Hexenprozessen der früheren Jahrhunderte findet man diese tragische Erscheinung: es ist, als ob das Entsetzen beim Bestehen eines scharfen Verhörs auf die Kindesseele einen so überwältigenden Eindruck machte, daß sie das Opfer einer Art von Suggestion wird, in welcher sich ihr die Furcht, die Eltern könnten das Verbrechen begangen haben, in Ueberzeugung verwandelt.

Am 8. August 1856 brannte das Haus des Bauern Hans Heinrich Sidler in Weinhof bei Ottenbach, Kanton Zürich, ab. Der Verdacht der Brandstiftung konnte nicht auf den Eigenthümer fallen, weil derselbe die mit verbrannte ganze Ernte nicht versichert hatte. In dem Hause wohnten aber weiter die Eheleute Jakob und Elisabeth Sidler mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Gottfried. Die Familie war arm und nährte sich von Seidenweberei für Lohn. Auch ihnen war ihre ganze Habe mit verbrannt. Es stand aber fest, daß das Feuer angelegt sein mußte. Da zeigte nach einiger Zeit die vierzehnjährige, in dem Orte Ottenbach wohnende Katharine Dubs an, daß sie auf Anstiftung der letztgenannten Sidlerschen Eheleute das Haus angezündet habe. Sie sei öfters in deren Wohnung gekommen; am Tage vor dem Brande nun habe sich die Frau Elisabeth Sidler darüber entrüstet gezeigt, daß ihr der Hauseigenthümer, Hans Sidler, ein Darlehn von fünf Franken abgeschlagen habe. „Sie sagte,“ gab die Dubs an, „ich solle das Haus anzünden, daß diese Sidlers auch nicht mehr hätten wie sie.“ Anfangs habe sie sich geweigert, dann aber auf längeres Zureden sich entschlossen, der Aufforderung zu folgen, und habe nun das niedrige Strohdach des Schweinestalls mit Schwefelhölzern angezündet. Zu diesem Zeugnisse des gut beleumundeten Kindes trat dann noch das des eignen Sidlerschen Sohnes Gottfried. Er erklärte vor der Polizei und dem Untersuchungsgerichte, sein Vater habe ein der Fabrik, für welche er arbeitete, gehöriges Stück Seidenzeug entwendet und verkauft. Und da habe die Mütter erklärt, das Haus müsse fort, damit der Diebstahl nicht herauskäme. (Es sollte damit wohl gemeint sein: damit man sagen könne, das Zeug sei mit verbrannt.) Darauf habe der Vater erwidert: „Laß das nur! Ich will’s schon besorgen.“

Infolge dieser Angaben wurden beide Eheleute gefänglich eingezogen. Sie betheuerten laut weinend ihre Unschuld; da aber Katharine Dubs mit ihrer Aussage ja sich selbst als Brandstifterin bezeichnete, die ihrer Strafe entgegensah, und andererseits man nicht annehmen konnte, daß der Sohn die eignen Eltern fälschlich beschuldigen würde, so wurden die Jakob Sidlerschen Eheleute vom Schwurgericht in Zürich wegen Anstiftung zur Brandlegung zu mehrjährigem Zuchthause und das von ihnen „verführte“ Kind zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt. Im Zuchthause betheuerten die beiden Verurtheilten noch fortwährend ihre Unschuld. Die Aufwärterinnen nahmen wahr, daß die Frau Sidler halbe Nächte durch weinte und den Himmel laut anflehte, ihre Unschuld an den Tag zu bringen, oder sie von ihren Leiden zu erlösen. Der Vater Jakob Sidler behauptete, daß von einem Diebstahle von Seide gar nicht die Rede sein könne, da erst am Brandtage sein ganzer Vorrath von der Fabrik nachgewogen und für richtig befunden worden sei. Diese Umstände bewogen den Anstaltsdirektor, den Sohn Gottfried ins Gebet zu nehmen. Er ließ ihn kommen und erfuhr nunmehr, daß der Knabe erst durch einen übereifrigen Polizeibeamten, der ihm gesagt habe, er komme drei Jahre ins Zuchthaus, wenn er’s nicht gestehe, veranlaßt worden sei, seine Eltern zu beschuldigen. Andererseits fiel es auf, daß Katharine Dubs, die bisher ein gesittetes Betragen an den Tag gelegt hatte, im Zuchthause allerlei Bosheiten und schlimme Streiche verübte. Als man sie frug, warum sie dies thue, erklärte sie, sie könne nicht mehr gut thun, sie finde keine Ruhe mehr, da sie die Sidlers vor Gericht falsch angeklagt habe. Sie habe das Haus selbst aus freien Stücken angezündet. Sie habe kurz vorher ein Feuer in einem Nachbarorte gesehen und dabei gedacht, sie wolle das Haus des Bauern Sidler anbrennen; der sei ein reicher, aber harter Mann. Sie sei der Ansicht gewesen, es werde allen Leuten recht sein, wenn sie das Haus anzünde. Nunmehr wurde das frühere Urtheil umgestoßen, das Ehepaar freigesprochen und Katharine Dubs statt zu einem zu drei Jahren Gefängniß verurtheilt. Auch der Sidlersche Sohn Gottfried erhielt seine Strafe wegen falscher Anzeige.

Daß die Hilflosigkeit eines unter falscher Anschuldigung oder falschem Verdacht stehenden Menschen diesen schließlich zu solcher Verzweiflung bringt, um in einem falschen mildernden Geständnisse sein Heil zu suchen, gehört ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. In dem nachfolgend erzählten Falle erlangte der Beklagte sogar durch solches falsches Geständniß seine Freisprechung.

Am Sonntag den 4. Juni 1884 früh sechs Uhr wurde das Bahnwärterehepaar Nacke von Neustadt a. Aisch in dem an der Bahnstrecke Würzburg-Nürnberg einsam im Walde gelegenen Wärterhäuschen aufgefunden, die Frau mit eingeschlagener Schädeldecke todt auf dem Boden hingestreckt, der alte Bahnwärter Nacke stieren Blickes mit stark geschwollnem Kopfe, aber noch lebend im Bette sitzend. Da der letztere mit seiner Frau oft im Streite gelegen hatte, so fiel sofort der Verdacht auf ihn selbst. An einen Raubmord war ja nicht zu denken, denn wer hätte sich einen armen Bahnwärter zu einem solchen ausgesucht! Nacke stellte jedoch den Mord an seiner Frau hartnäckig in Abrede, obwohl man von allen Seiten auf ihn eindrang, er solle doch ein Geständniß ablegen. Als er schließlich einsah, daß ihm sein Leugnen doch nichts helfen würde, da der Verdacht zu schwer auf ihm lastete, verfiel er in der Angst seines Herzens auf ein eigenthümliches Mittel, welches ihm wohl von andrer Seite nahegelegt worden war, denn er selbst war geistig nicht sehr geweckt. Er gestand auf einmal ein, daß er sein Weib getödtet habe, behauptete aber, daß er sich der jungen kräftigen Frau gegenüber, mit der er in Streit geraten sei, seines Lebens habe wehren müssen. Danach würde er in Nothwehr gehandelt haben, was ihn straflos machte, und dies Geständniß konnte ihm somit das Leben retten. Seine eigne schwere Verwundung ließ die Angabe in der That glaubhaft erscheinen. Und wirklich, die Rechnung stimmte! Nacke wurde vom Geschwornengericht in Nürnberg zwar der Tödtung seiner Frau für schuldig erklärt, aber, da er die That aus Nothwehr verübt habe, von der Strafe freigesprochen. Allgemein galt er jedoch immer als der Mörder seiner Frau.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_138.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)