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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Der Zonentarif.

Brandons Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft,“ so stand im Jahrgang 1868 der „Gartenlaube“ zu lesen, und der Plan, den sie im Auge hatte, das war der „Passagierporto“–Plan, den eben damals der Engländer Raphael Brandon in einer Schrift öffentlich dargelegt hatte, der Plan, wonach der Mensch um drei Pence oder rund 30 Pfennig von einem Ende des britischen Inselreichs bis zum andern befördert werden sollte, so gut wie um einen Penny der Brief. Es hat lange gedauert, bis die Prophezeiung der „Gartenlaube“ in Erfüllung ging, obgleich bald nach Brandon in Deutschland der unermüdlich rührige Perrot für denselben Gedanken eintrat und andere, wie Hertzka (1884) und Engel (1888), ihm folgten; indessen sind wir heute doch schon so weit, daß wir sagen können, sie ist in Erfüllung gegangen.

Aber es war nicht das britische Inselreich, welches den ersten Schritt auf der neuen Bahn that, wie es den ersten in der epochemachenden Umwälzung des Briefportowesens gethan hatte. Auch das Deutsche Reich nahm nicht die Führung auf dem Felde der Verkehrspolitik, wie noch im Jahre 1888 nach Erscheinen des Buches von Eduard Engel ein optimistischer Plauderer in der „Gartenlaube“ gleichsam als selbstverständlich sich ausgemalt hatte. Oesterreich-Ungarn ist das Land, das Kühnheit genug besaß, den lange nur litterarisch vertretenen Gedanken im großen praktisch zu erproben, und es fand seinen Nachfolger in keinem der Staaten, die man als die vornehmsten Träger der europäischen Kultur zu betrachten pflegt, sondern in dem erst jetzt allmählich an die Kulturwelt sich anschließenden Rumänien – gewiß eine sonderbare Erscheinung!

Freilich, Brandons Gedanke war doch nur der Kern derjenigen Einrichtungen, die heute in Oesterreich und Ungarn eingeführt sind und die wir bis auf weiteres als Mustervorlage des modernen Eisenbahnwesens betrachten dürfen. Unter dem überwältigenden Eindruck von dem Siegeslaufe, den Rowland Hills „Pennyporto“ durch die Welt nahm, hatte Brandon die wesentlichen Unterschiede zwischen der Personen- und Briefbeförderung übersehen und war in ein undurchführbares Extrem verfallen. Die Kosten bei der Beförderung von Briefen bestehen lediglich aus denjenigen, welche bei der Uebernahme und Abgabe der Briefe auflaufen; während der Beförderung selbst erwachsen der Post so gut wie gar keine neuen Auslagen, und mit Rücksicht darauf konnte das Briefporto unabhängig von der Länge der Beförderungsstrecke einheitlich bemessen werden. Da ferner das geringe Gewicht und der kleine Umfang der Briefe es gestatteten, die Beförderung einer nahezu unbeschränkten Anzahl derselben mit den vorhandenen Betriebsmitteln zu bewältigen, so stufte man das Briefporto innerhalb eines Postgebiets nur einmal nach dem Gewichte ab. Anders bei der Beförderung von Personen! Die Kosten bei der Uebernahme und bei der Abgabe sind hier sehr geringe, dagegen wachsen sie während der Beförderung mit jedem Stücke zurückgelegten Wegs infolge des Aufwands an Brennmaterial, Abnutzung der Wagen und Lokomotiven, des Eisenbahnoberbaus, infolge von Wechsel des Personals, der Wagen und Maschinen und dergleichen. Die Eisenbahnen können daher unmöglich bei der Bemessung des Fahrpreises die Länge der Beförderungsstrecke außer acht lassen, wie dies bei der Briefpost geschieht. Auch ist die Leistungsfähigkeit der Bahnen hinsichtlich des Personenverkehrs eine verhältnißmäßig viel beschränktere, die Anlageverhältnisse, die Menge der Betriebsmittel und dergleichen ziehen hier genau umschriebene Grenzen.

Wenn nun aber die Eisenbahnen von der Berechnung ihrer Fahrpreise nach der zurückzulegenden Entfernung nicht abgehen können, was ist denn dann beim Zonentarif anders als seither? Worin liegt das Neue, das Epochemachende?

An und für sich ist das grundsätzliche Verfahren durchaus dasselbe wie bisher. Nach wie vor wird sich aus den zwei Faktoren: Personenzahl und Entfernung, die Berechnung der Reisekosten des nach der Sommerfrische strebenden Familienvaters ergeben. Vor allem ist der Begriff der Billigkeit durchaus nicht untrennbar mit dem des Zonentarifs verbunden. Es lassen sich die theuersten Zonentarife sogut denken wie die billigsten. Der Zonentarif ist zunächst nichts als eine, wie man sagt, „verkehrstechnische“ Einrichtung. Man berechnet nicht mehr den Preis für jede einzelne Entfernung, für jede Station besonders, sondern man bildet Gruppen, die je für sich gleichartig behandelt werden. Was man erreicht, ist eine erhebliche Vereinfachung des Verwaltungs- und Rechnungsapparats, und damit allerdings auch schon soviel, daß man die Fahrt „billiger geben“ kann. Ob man das thut oder nicht, ist wieder eine Frage für sich, die mit dem Zonentarif selbst nichts zu schaffen hat.

Thatsächlich haben nun allerdings die beiden großen Bahnverwaltungen von Oesterreich und Ungarn mit der Einführung des Zonentarifs, jede in ihrer Weise, eine ganz bedeutende Herabsetzung der Fahrpreise verknüpft –, und das hat dem Zonentarif die Herzen erobert und läßt ihn als erstrebenswerthes Gut überall da erscheinen, wo er noch nicht eingekehrt ist.

Die österreichischen Staatsbahnen waren die ersten, welche den Weg der Reform mit einem praktischen Versuche betraten und in geschäftsmännisch vorsichtiger Weise im Sommer 1889 zunächst auf den Wiener Lokalstrecken einen Zonentarif mit sehr ermäßigten Sätzen einführten. Ihnen folgten die ungarischen Staatsbahnen, welche am 1. August 1889 auf allen ihren Linien eine durchgreifende Neugestaltung des Personenbeförderungswesens ins Leben riefen, eine That, welche die Augen der ganzen civilisirten Welt auf sich zog wie selten ein Ereigniß friedlicher Natur. Das Beispiel Ungarns und der eigene gelungene Versuch veranlaßten dann wieder die österreichischen Staatsbahnen, am 16. Juni 1890 einen Zonentarif mit außerordentlich herabgesetzten Fahrpreisen auf ihrem gesammten, nahezu 7000 km umfassenden Bahnnetze in Kraft treten zu lassen.

Sehen wir uns die beiden Systeme etwas genauer an.

Bei dem österreichischen Tarife werden die Entfernungen in nachstehender Weise in Zonen eingetheilt:

die ersten 50 Kilometer in fünf Zonen zu je 10 km;
die folgenden 30 km in zwei Zonen zu je 15 km;
die nächsten 20 km bilden für sich eine (die achte) Zone;
die Entfernungen von 100 bis 200 km sind in vier Zonen zu je 25 km zerlegt;
die Entfernungen über 200 km sind fortlaufend in Zonen von 50 km zusammengefaßt.

Diese Zonen (das griechische Wort zoné bedeutet eigentlich „Gürtel“) werden von jeder Station aus gezählt und müssen als konzentrische Kreise mit der betreffenden Station als Mittelpunkt gedacht werden. Für alle innerhalb eines solchen Zonenringes befindlichen Stationen der verschiedenen Linien liegt an der Ausgangsstation nur eine einzige, die Zonenziffer und die Namen der entferntesten Station in jeder Richtung tragende Fahrkarte auf. Es läßt sich leicht ermessen, welche Vereinfachung des Fahrkarten- und des Rechnungswesens damit erzielt wurde, indem die Stationen an Stelle der früher geführtem großen Menge der verschiedenartigsten Kartengattungen nur noch für so viele Zonen Fahrkarten besitzen, als erfahrungsgemäß für ihren Verkehr benötigt werden. Kleinere Stationen kommen z. B. meist mit acht Zonen aus, größere führen achtzehn bis vierundzwanzig Zonenkarten.

Als Tarifgrundlage und zugleich als kilometrische Einheitstaxre für die 3. Klasse Personenzug wurde die kleinste gangbare Münzeinheit des Landes, der Kreuzer, gewählt; das heißt für jeden Kilometer Bahnfahrt wird für eine Person 1 Kreuzer [1] in der 3. Klasse Personenzug berechnet, was eine 50prozentige Ermäßigung gegenüber den früheren Sätzen bedeutet und dem Tarife für die 4. Wagenklasse auf den preußischen und sächsischen Staatsbahnen gleichkommt.

Für die 2. Klasse ist der doppelte Betrag, 2 Kreuzer, für die 1. Klasse der dreifache, 3 Kreuzer, als kilometrische Grundtare festgesetzt. Bei Schnellzügen erfahren die Taren aller drei Klassen einen Zuschlag von 50 Prozent. Die Fahrpreisermittelung erfolgt nun in der Weise, daß die Schlußentfernung einer Zone mit der Grundtare der betreffenden Wagenklasse multiplizirt wird.

Es kostet also zum Beispiel:

eine Fahrkarte 3. Klasse Personenzug für die 8. Zone (81–100 km) 100 x 1 = 100 Kreuzer oder 1 Gulden;
eine Fahrkarte 1. Klasse Schnellzug für die 12. Zone
  1. 1 Kreuzer = 2 Pfennig R. W.
  2. Empfohlene Zitierweise:
    Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_155.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)