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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Wanderungen durch Wien.[1]

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.
Ringstraße und Stadterweiterung.

Der glanzvolle Aufschwung, welchen Wien infolge des denkwürdigen Handschreibens vom 20. Dezember 1857, das die Aufhebung der Stadtwälle aussprach, genommen hat, steht wohl einzig da in der Geschichte der Städteentwickelung. Ein ungeahntes Wachsthum, eine starke Bevölkerungszunahme, tiefeingreifende Umgestaltungen der Verkehrsmittelpunkte und Straßenzüge hatten gleichzeitig auch andere Städte aufzuweisen, bei keiner jedoch waren die Vorbedingungen zur planvollen und zugleich künstlerisch vornehmen Ausgestaltung der neuen Stadttheile so günstig wie hier.

Der weite Flächenraum von etwa 500 000 Quadratklaftern (180 Hektar), welcher durch Beseitigung der Festungswerke, des Stadtgrabens und der Glacis gewonnen wurde, gestattete nicht nur, mit Benutzung der eingelaufenen Konkurrenzentwürfe einen vollständigen Stadterweiterungsplan auszuarbeiten, sondern der Erlös für die Baugründe lieferte auch eine beträchtliche Summe, welche von der Stadterweiterungskommission zur Herstellung von öffentlichen, dem Staatsleben, der Kunst und dem Unterrichte dienenden Prachtbauten verwendet wurde. In einem Zeitraum von 30 Jahren erstand dieser herrliche Stadttheil, der mit seiner von stolzen Palästen umrahmten Ringstraße, seinen lieblichen Gartenanlagen, seinen weiten, luft- und lichtdurchströmten Plätzen, seinen von den prachtliebenden Meistern der Wiener Schule geschaffenen Monumentalbauten wohl kaum seinesgleichen hat unter den modernen Stadttheilen Europas.

Der Fremde, welcher an einem sonnigen Tage zum ersten Male über die Ringstraße fährt, wird den überwältigenden Eindruck der herrlichen Ausblicke, der mächtigen, in fein nachempfundenen Stilarten der Gothik, der Renaissance und der Antike ausgeführten Bauten, der anmuthigen Gartenanlagen zu seinen schönsten Reiseerinnerungen zählen, und falls er sich die Mühe nimmt, das Innere dieser Prunkpalaste zu besichtigen, wird sein Auge berauscht und entzückt von der Fülle des Geschauten, von den Kunstwerken der Plastik und Malerei und der Kostbarkeit des verwendeten Materials. Ein Besuch der Hofmuseen, des neuen Burgtheaters, des Parlamentsgebäudes gewährt einen lohnenden Einblick in die künstlerische Leistungsfähigkeit des modernen Wiens.

Das Opernhaus.

Herr Hainfelder, welcher sich nach der erfolgreichen Führung seines Schützlings durch die innere Stadt auch ferner zum Cicerone angeboten hatte, führte Herrn Fritz Werner zunächst an den Ausgang der verlängerten Kärntnerstraße vor dem Opernhause.

„Sehn S’, lieber Herr,“ fing er seine Erklärungen an, „hier ist die mächtigste Verkehrsader, denn hier kreuzen sich die wichtigsten Straßen; die Kärntnerstraße und Rothenthurmstraße verbinden die innere Stadt und die Leopoldstadt mit der Wieden und den angrenzenden Vorstädten. Die günstige Lage des Kärntnerrings und der Umstand, daß dieser Theil der Ringstraße zuerst vollendet wurde, hat die Ausbildung eines Korsos begünstigt, der besonders im Frühling an schönen Sonntagvormittagen ein sehenswerthes Schauspiel bietet. Von der Ecke der verlängerten Kärntnerstraße bis zum Gebäude der Gartenbaugesellschaft bewegt sich da ein dichter Menschenstrom auf dem breiten Trottoir und in der Geh-Allee. Hier können Sie das elegante Wien studieren. Die Damen zeigen ihre neuesten Toiletten, das ‚Gigerlthum‘ macht sich in allen Spielarten breit. Es ist ein großer Salon unter freiem Himmel, ähnlich dem Markusplatz in Venedig oder dem Toledo in Neapel. Man ist sicher, an solchen Tagen einen großen Theil derjenigen zu finden, welche sich zur ‚Gesellschaft‘ zählen, aber auch solche, welche um jeden Preis dazu gezählt werden möchten.

Auf der Elisabethbrücke.

Die besprochene Ecke ist zugleich das Lästerstübchen für junge Herren, welche dort gewöhnlich in großer Zahl aufgepflanzt sind und an den Vorüberwandelnden stets neue Nahrung für ihren Witz und ihre Klatschsucht finden. Kommen Sie, Herr von Werner, machen wir den Rummel ein bißl mit! Sie werden’s nicht bereuen. Ich versprech’ Ihnen nicht zuviel, wenn ich sage, daß Sie kaum anderswo eine gleiche Menge von reizenden Mädchen und schönen Frauen, welche ihre Toiletten mit Geschmack und Schick zu tragen verstehen, finden werden. Sehen S’ nur, wie die Hüte in Bewegung sind; jeder fünfte Mensch grüßt; man trifft sich hier, plaudert ein paar Worte, bespricht eine Zusammenkunft und in einer halben Stunde hat man mehr „Besuche“ abgemacht, als man sonst in einer ganzen Woche zu bewältigen imstande wär’. Der Herr dort mit dem graumelirten Schnurrbart ist der Unterrichtsminister. Sehen Sie, wie freundlich er den Herrn in der Geh-Allee begrüßt; es ist ein Abgeordneter der Opposition, der ihm viel saure Stunden bereitet. Von Litteraturgrößen bemerken wir die lebhafte Gestalt des Hofrathes Doczi, des Dichters des „Kuß“ und der „Letzten Liebe“, den schönen

  1. Vergl. Nr. 8 dieses Jahrganges.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_227.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)