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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Im Kampf um einen Königsthron.

Die Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft in Blaye.
Von Eduard Schulte.

Die Revolution im Juli 1830 vertrieb den König Karl X. von Frankreich und seine Familie, den älteren Zweig der Bourbonen, zum dritten Male vom französischen Boden. Die flüchtige Königsfamilie begab sich zunächst nach England und dann nach Schottland, wo sie zu Edinburgh im Schlosse Holyrood, das einst von Maria Stuart bewohnt wurde, ihren Aufenthalt nahm. Die Flüchtlinge waren außer dem Könige dessen ältester Sohn, der Dauphin, der den Titel eines Herzogs von Angoulême führte, und dessen Gemahlin, die als Tochter Ludwigs XVI. zugleich ihres Gatten Cousine war; ferner die Herzogin von Berry, Marie Karoline, die Witwe des zweiten Sohnes des Königs, des im Jahre 1820 ermordeten Herzogs von Berry, mit ihren beiden Kindern, der im Jahre 1819 geborenen Prinzessin Louise und dem um ein Jahr jüngeren Prinzen Heinrich, der „Herzog von Bordeaux“ und später meist „Graf von Chambord“ genannt wurde.[1] Zu Gunsten dieses Enkels, der als König „Heinrich V.“ heißen sollte, hatte der König Karl auf seine Krone verzichtet, indem er zugleich den Herzog von Orleans Louis Philipp zum Generalstatthalter des Königreichs ernannte. Nachdem Louis Philipp aber selbst den Thron bestiegen hatte, zog Karl X. die Ernennung zurück und bestimmte dafür die Mutter Heinrichs, die Herzogin von Berry, zur Regentin. Karls Erbe würde nach bestehendem Gesetz und Herkommen zunächst der Herzog von Angoulême als Dauphin gewesen sein. Aber dieser fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen, unter schwierigen Verhältnissen eine Krone zu tragen oder, da diese seiner Familie entrissen war, auch nur die Rolle eines Prätendenten zu spielen; überdies lebte er in kinderloser Ehe. Der greise Karl X. führte den Königstitel fort und blieb das maßgebende Oberhaupt der entthronten Herrscherfamilie, aber auf eine Wiedergewinnung des Thrones hoffte er kaum noch; jedenfalls war er ebenso wie sein Sohn einem kühnen und entschlossenen Eintreten für das legitime Königthum durchaus abgeneigt.

Die Partei der „Legitimisten“ oder „echten Royalisten“ in Frankreich sah die Entthronung ihres angestammten Königshauses natürlich als eine frevelhafte Ungesetzlichkeit und als etwas Vorübergehendes an. Ihre einzige Hoffnung war, wie die Dinge einmal standen, der junge Herzog von Bordeaux und mit ihm, da er bei der Entthronung erst zehn Jahre zählte, seine Mutter, die Herzogin von Berry. Ohne sonderlich gebildet und begabt zu sein, war sie eine entschlossene Frau, die bei der geringen Willenskraft der älteren männlichen Mitglieder der Familie es für ihre heilige Pflicht hielt, alles zu wagen, um ihrem Sohne den französischen Thron zu sichern. Sie stand erst im zweiunddreißigsten Lebensjahre und schien als Tochter des neapolitanischen Königshauses südliche Leidenschaftlichkeit geerbt zu haben, wenngleich ihr Aeußeres die Südländerin nicht verrieth; bei kleiner und voller Gestalt hatte sie auffallend weiße Hautfarbe, blondes Haar und blaue Augen.

Marie Karoline Herzogin von Berry.

Die Lebendigkeit und hoffnungsfreudige Thatkraft der Herzogin stimmte nicht zu der Stille und Entsagung, die in Karls X. Umgebung herrschte. So trennte sie sich vom Hofe und lieh denjenigen Legitimisten ihr Ohr, welche eine gewaltsame Erhebung gegen die Regierung Louis Philipps planten. Die Reden ihrer heißblütigsten Anhänger, welche sie in England aufsuchten, und die brieflichen Darlegungen der Royalisten in Frankreich selbst ließen in ihr den Entschluß reifen, nach dem Festlande zu gehen und die Erhebung in Person zu leiten.

Die Einbildungen und Selbsttäuschungen des Emigrantenthums sind sprichwörtlich geworden, und die Herzogin erlag ihnen ebenso wie ihre nähere Umgebung. Trotzdem würde man nicht sagen können, daß die in diesen Kreisen gehegten Hoffnungen völlig unbegründet und ihre Voraussetzungen sämmtlich irrig gewesen wären. Die Phantasiegebilde hatten einige wirkliche Grundlagen. Louis Philipp war nicht bloß den Legitimisten und den mit ihnen verbundenen Ultramontanen, sondern auch den Republikanern tief verhaßt, und er hatte Mühe genug, seinen Thron gegen diese seine zahlreichen und mächtigen Feinde zu behaupten. Hatte nicht die alte Königsfamilie überall in Frankreich, besonders im Süden und im Westen, Anhänger, von denen man erwarten konnte, daß sie ihre Treue nicht bloß durch stille Theilnahme für das Haus Bourbon und durch eine in den Schranken der bestehenden Ordnung sich haltende Opposition gegen das Haus Orleans, sondern im Nothfall mit Gut und Blut zu bethätigen bereit waren? Lebten nicht in der Vendée noch Hunderte von Adligen und Bauern, die unter der ersten Republik und noch im Jahre 1815 für den rechtmäßigen König die Waffen ergriffen hatten? Hatte nicht Napoleon, als er von Elba kam, gezeigt, wie man bei opferwilliger Anhängerschaft im Lande und bei kühnem Vorgehen eine Regierung stürzen konnte? Und das Ausland stand dabei auf Seiten dieser Regierung. Jetzt betrachteten umgekehrt die Höfe von Rußland, Oesterreich und Preußen und die fast aller kleineren Länder den König Louis Philipp mit Mißtrauen. Sie wollten nicht gelten lassen, daß er die Krone nur angenommen habe, um der mißlichen und wahrscheinlich unwirksamen Vormundschaft über ein königliches Kind zu entgehen und der Errichtung der Republik vorzubeugen; in ihren Augen war er ein Thronräuber. Die Herzogin hoffte, daß diese Herrscher ihr beim Verfechten eines legitimen Rechts mehr oder minder offen zur Seite stehen würden. Ueberdies schien die Lostrennung Belgiens von Holland, die der Julirevolution unmittelbar gefolgt war, zu einem europäischen Kriege führen zu sollen. Vielleicht wurde eine legitimistische Erhebung in Frankreich dadurch erleichtert, daß die französischen Heere jenseit der Grenze zu kämpfen hatten; vielleicht brachte dieser Krieg die angestammte Königsfamilie wieder auf den Thron.

Im Juni 1831 verließ die Herzogin von Berry, unter dem Namen einer Gräfin von Sagana reisend, in Begleitung einiger Herren und Damen England. Nach einem Besuche bei dem Könige von Holland fuhr sie rheinaufwärts, durchreiste die Schweiz und traf in Turin und bei Genua mit König Karl Albert von Sardinien zusammen. Von ihm empfing sie eine Million Franken; auch aus dem Haag und aus Lissabon flossen ihr größere Summen zu. Bei den Fürsten Mittelitaliens und sogar bei ihrem königlichen Bruder von Neapel fand sie nicht die gewünschte Unterstützung, da die französischen Gesandten Vorstellungen erhoben und selbst Drohungen anwandten. Zuletzt, vom Dezember 1831 an, fand sie eine Zuflucht nur noch in Massa, dessen Landesherr, der Herzog von Modena, die Regierung Louis Philipps nicht anerkannt hatte. Von hier aus sandte sie den Herzog von Blacas,

  1. Derselbe, welcher am 24. August 1883 zu Frohsdorf bei Wien starb.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_237.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)