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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 16.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(15. Fortsetzung.)

Der alte Rechtsbeistand des Freyschen Hauses begann die Testamentseröffnung mit ein paar bewegten Worten, die hauptsächlich Antje galten. Er sagte, wie traurig es ihm sei, so bald, so rasch schon diese schwere Pflicht erfüllen zu müssen, die Pflicht, zu der Waise zu sprechen im Namen der Heimgegangenen. Dann erbrach er das gewichtige Aktenstück, nachdem er die Anwesenden sich von dem unversehrten Zustande der gerichtlichen Siegel hatte überzeugen lassen, und begann:

 „Im Namen Gottes!

Nachdem ich gefühlt und mir es auch mein Arzt gesagt hat, daß ich in kurzem zum Sterben kommen werde, habe ich mich angeschickt, meinen letzten Willen aufzuzeichnen. Er ist gefaßt nach reifer Ueberlegung und in voller Uebereinstimmung mit dem, was auch mein seliger Mann oftmals als das Richtige und Nothwendige zum Besten unserer Tochter mit mir besprochen hat. Laut gerichtlich anerkannten Testaments meines lieben seligen Mannes bin ich als seine Universalnachfolgerin in alle seine Rechte eingetreten und von ihm ermächtigt worden, über den gesammten Nachlaß zu testiren. Er wußte, er durfte mir volles Vertrauen schenken, und dieses Vertrauen hat mich mehr erfreut und beglückt als das irdische Gut, das er mir hinterließ.

Demgemäß bestimme ich, daß unser einziges Kind, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, die Erbin unserer gesammten zeitlichen Güter, besonders aber der Schöpfung meines in Gott verstorbenen Schwiegervaters Herrn Christoph Gottlob Frey, des Eisenhüttenwerkes ‚Gottessegen‘, werde, mit Ausnahme eines Kapitals von 60000 Mark (sechzigtausend Mark), welches unser Neffe, Herr Ferdinand Frey aus N., den wir wie einen Sohn lieben, erhält.

Meine Tochter, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, hat ihr Erbe unter folgenden Bedingungen anzutreten:

1) Sie ist gehalten, ihren Wohnsitz auf der Hütte ‚Gottessegen‘ zu nehmen.

2) Es liegt ihr ob, die oberste Leitung des Geschäftes zu übernehmen. Ohne ihre Unterschrift und Einwilligung darf keine Veränderung im Betriebe vorgenommen, kein wichtiges Geschäft zum Abschluß gebracht, noch eine Aenderung des Personals getroffen werden. Sie hat in ihres Vaters und in meinem Sinne als Chef dem Anwesen vorzustehen; zugleich ist der langjährige Werkführer unseres Hauses, Herr Friedrich Kortmer, von mir beauftragt, ihr als Rathgeber zur Seite zu stehen.

Es mag befremdend erscheinen, daß ich solches verlange; es geschieht aus zweierlei Gründen. Den einen derselben kennt meine Tochter und kennt mein Schwiegersohn – ich will beiden die Erörterung desselben an diesem Orte ersparen. Fürs zweite sage ich denen, die da zweifeln könnten, daß eine Frau so großer Aufgabe gewachsen sei, daß ich, die ich keine blindeingenommene Mutter bin, mich überzeugt habe, daß meine Tochter Anna Jussnitz die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, Leiterin des Werkes zu werden.

3) Meine Tochter Anna Clara Jussnitz ist gehalten, alljährlich ein Viertheil des Gewinnes aus dem Werke in Ländereien, Forsten oder Häusern anzulegen als Kapital für ihre Erben und ebenso alljährlich eine bestimmte Summe zur Vervollkommnung und Verbesserung des Betriebes zu verwenden, damit das Werk stets auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit bleibe. Ferner ist meine Tochter verpflichtet, innerhalb der nächsten vier

Türkische Sängerin.
Nach dem Gemälde von F. W. Bredt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_261.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2022)