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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Eine weitere verantwortungsvolle Frage, die sehr oft jeder sicheren Aufklärung spottet, entsteht für den Richter, beziehungsweise für die ihm zur Seite stehenden wissenschaftlichen Sachverständigen durch den Zweifel: war der Angeklagte bei Begehung der verbrecherischen That geistig zurechnungsfähig oder nicht? – und auch hier ist der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntniß von entscheidendem Einfluß auf die Urtheilsabgabe. Die Ansichten der Irrenärzte haben sich schon vielfach gewandelt. So nahm man früher das Bestehen besonderer krankhafter Triebe an, welche die Zurechnungsfähigkeit für den Augenblick der That aufhöben, und sprach von einem „Brandstiftungs“- und „Diebstahlstrieb“ („Pyromanie“ und „Kleptomanie“). Die spätere Psychiatrie verwarf jedoch diese Lehre von den besonderen Manien und läßt sie nur gelten als Ausflüsse einer allgemeinen geistigen Erkrankung. (Man vergleiche den Artikel „Wahnsinn und Verbrechen“, Jahrgang 1885, S. 392.) Sie nimmt mit anderen Worten keinen bloß theilweisen, sondern nur einen allgemeinen Wahnsinn an. Neuerdings tritt aber eine Strömung unter den Irrenärzten hervor, welche der Unzurechnungsfähigkeit der Verbrecher noch eine weitere Grenze steckt. Diese Strömung geht auf Annahme eines sogenannten „moralischen Irreseins“ und weist zugleich, indem sie krankhafte Störungen bei den Vorfahren und Verwandten festzustellen sucht, der „erblichen Belastung“ maßgebende Bedeutung zu. Je mehr diese Lehre Einfluß und Beachtung gewinnt, desto größer wird die Zahl der Freisprechungen und desto größer muß also auch die Zahl derer sein, welche bisher unschuldig verurtheilt wurden. Es ist ja kein Zweifel, daß diese Lehre eine gewisse Gefahr des Mißbrauchs in sich birgt. Trotzdem aber kann sie nicht von der Schwelle des Gerichtssaales gewiesen werden, und thatsächlich ist es denn auch schon vorgekommen, daß die Vertreter der ärztlichen Wissenschaft, wenn sie das abgeschlagene Haupt eines von der Justiz Gerichteten unter ihre kritische Sonde nahmen, sich haben gestehen müssen, daß der Verurtheilte statt dem Henker dem Irrenarzte hatte überwiesen werden sollen.

Die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit ist namentlich um deswillen eine schwierige, weil die verbrecherische That oft das erste Zeichen des im Verbrecher bereits heimlich schlummernden Wahnsinns ist, während er bis dahin ganz vernünftig gehandelt hatte. Sie wird aber für den Arzt häufig noch dadurch erschwert, daß manche Verbrecher, um der Strafe zu entgehen, Wahnsinn vorspiegeln (simuliren). In den Registern der gerichtlichen Medizin wird namentlich ein Fall angeführt, in welchem es zur vollen Erledigung jener Frage eines Zeitraums von elf Jahren bedurfte, während dessen der Angeklagte sein Leben zwischen Irrenhaus und Gefängniß hinbrachte. Es ist dies die Geschichte eines Schuhmacherlehrlings namens B., der in seinem 18. Jahre am Abend des 12. Februar 1852 einen gewaltthätigen Angriff gegen die Witwe S. ausführte. Er zeigte kurz vor und nach der That Anzeichen von Verrücktheit. Der Gefängnißarzt Dr. R. erklärte sein tobsüchtiges Gebühren für Verstellung. Da aber B. in seinem tollen Handeln fortfuhr, unsinnige Reden führte und alles zerstörte, was unter seine Hände kam, sich im Winter auf die platte Erde legte, ohne von der Zudecke Gebrauch zu machen, aus dem Waschbecken trank etc. und monatelang stumm blieb, wurde er einer Irrenanstalt übergaben. Der Direktor derselben, Dr. J., erklärte, B. sei wirklich wahnsinnig und zwar unheilbar. Zur Aufhebung dieses Widerspruchs wurde ein Gutachten des Medizinalkollegiums eingeholt. Dieses entscheidet sich für die Wahrscheinlichkeit einer Verstellung. B. wird daher aus dem Irrenhause wieder ins Gefängniß zurück gebracht. Dort unterzeichnet er alle Protokolle statt mit seinem Namen mit „Napoleon“. Vors Schwurgericht gestellt, giebt er auf keine einzige Frage Antwort und bleibt stumm. Die dort vernommenen Sachverständigen widersprechen sich von neuem. Dr. R. und Dr. Rtz. halten ihn für einen Heuchler, Dr. S. erklärt dies für höchst zweifelhaft.

Nachdem die Verhandlung auf einige Stunden unterbrochen und dem Angeklagten vorgehalten worden ist, daß er durch sein hartnäckiges Verharren in der Stummheit nur seinen Prozeß und damit seine Haft in die Länge ziehe, verharrt er, wieder in den Saal zurückgeführt, dennoch in dem früheren Schweigen und setzt dasselbe auch im Gefängniß fünf Vierteljahre lang fort. Nun werden neue Gutachten eingeholt. Dr. R. hält jetzt in Uebereinstimmung mit Dr. S. eine Verstellung auch für unwahrscheinlich, da sie keinen Zweck mehr habe, indem sie den B. nur länger im Gefängniß zurückhalte. Der Angeklagte wird von neuem ins Irrenhaus gebracht. Dort kehrt nach acht Monaten bei ihm die Sprache wieder. Ein erneutes Gutachten der Medizinalkommission schließt mit der erneuten Annahme einer wahrscheinlichen Verstellung.

Um die Sache endlich zum Abschlusse zu bringen, wird vom Gerichte ein End- und Obergutachten von der wissenschaftlichen Deputation des Medizinalwesens in Berlin eingeholt, und in diesem wird ausgeführt und wissenschaftlich begründet, daß B. niemals geheuchelt habe, daß er schon bei Begehung des Verbrechens wahnsinnig gewesen sei und daß dieser Wahnsinn fortgedauert habe bis zur Gegenwart. Auch sein Stummsein in der Schwurgerichtssitzung und später sei nur als ein Ausfluß seiner Verrücktheit anzusehen.

Nun erst konnte das gerichtliche Verfahren durch die Freisprechung des B. zu Ende geführt werden. In der Zeit aber, die seit seiner Inhaftnahme verflossen war, würde er die ihn schlimmstenfalls treffende Strafe schon längst verbüßt gehabt haben.

Fr. Helbig.




Aus Thüringer Erde.

Die Töpfereien zu Bürgel.
Von Hermann Ferschke. Mit Zeichnungen von O. Herrfurth.

Jena, die alte Saalestadt, haben wir verlassen, die Saale überschritten und auch die beiden Schwesterorte Kamsdorf-Wenigenjena durchwandert, nicht ohne dem schlichten Kirchlein zu Wenigenjena, der Trauungsstätte Friedrich Schillers einen pietätvollen Besuch abgestattet zu haben, – da kommen wir auf eine prachtvolle, zwischen seltsam geformten Bergen sich hinziehende Landstraße. Sie führt uns in zwei guten Wanderstunden nach Bürgel, einer kleinen Stadt im Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach von gegen 1700 Einwohnern, an dem Gleißflüßchen gelegen, welches sich, zwischen Jena und Dornburg in die Saale ergießt. Die Stadt liegt auf einer Anhöhe, welche eine Unterlage von rothem Sandsteinfelsen hat, und wird meilenweit von prachtvollen Wäldern umrahmt, die allein schon unseren Besuch reichlich belohnen würden. Aber nicht um die reine Luft dieser Höhen zu athmen, nicht um in dem würzigen Hauch der Wälder uns zu erquicken, sind wir gekommen; den Menschen und ihrem Leben und Wirken gehört heute unsere Aufmerksamkeit. Denn wie viele Orte in dem gesegneten Thüringerlande, so hat auch Bürgel eine uralte, eigenartige Industrie, welche diese Stadt weit und breit bekannt gemacht hat und ihr heute vollends, da man die Erzeugnisse dieser Industrie in kunstgewerblich veredelter Gestalt überall auf dem Weltmarkte findet, einen hochangesehenen Namen unter den Stätten deutschen Gewerbfleißes sichert, – es ist dies die Fertigung von Thonwaren.

Die Töpferei in Bürgel ist wahrscheinlich so alt wie die Stadt selbst; denn als man bei einer Ausgrabung unter der alten, im 13. Jahrhundert erbauten Stadtmauer einen Keller freilegte, fand man darinnen alte Thonwarenüberreste, welche genau dieselbe blaue Glasur an sich trugen wie die heutigen Erzeugnisses der Bürgeler Töpferkunst. Es ist dies keineswegs etwas Merkwürdiges, da ja die Verfertigung gebrannter Thongefäße zweifellos bis in die vorgeschichtliche Zeit hineinreicht, wie dies durch die in alten Gräberfeldern gemachten Funde von Urnen, Krügen und Topfscherben hinreichend bewiesen ist. Das Töpfereigewerbe setzte sich vor Zeiten eben da fest, wo die Bedingungen seines Bestehens vorhanden waren, das heißt wo sich geeignete Thonlager und reichliches und billiges Feuerungsmaterial vorfanden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_331.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)