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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Berliner Garnison. Ernst, gemessen, langsam, schwerfällig und schwermüthig, dem Leid Ausdruck verleihend, so ziehen sie dahin hinter dem Sarge, hinter dem schwarzen, von Kränzen erdrückten Leichenwagen. Selbst die Trakehner Rappen, die der Kaiser aus seinem Marstall gesandt, scheinen zu empfinden, um was es sich handelt, und ihre Köpfe neigen und heben sich langsam im Trauerschritt.

Durch die Alsenstraße, über die Moltkebrücke, jenseit deren die Kriegervereine mit ihren Fahnen Aufstellung genommen haben, wendet sich der Zug nach dem Bahnhof, und die Schlünde der Geschütze öffnen sich, und Donnerhall rollt durch die sonnendurchwirkte Luft, als der Zug dort eintrifft. Bald ist alles geschehen. In den königlichen Gemächern des Bahnhofs ist Moltke aufgebahrt. Auch hier ist alles schwarz, düster, dem Todesschmerz angepaßt. Der Sarg ist geschlossen, auf dem Deckel ruhen Marschallstab, Degen und Helm. Nun sieht ihn kein menschlich Angesicht wieder, nun ist er dahingegeben den dunklen Mächten. In der kleinen, engen Kammer ruht Deutschlands einstiger Schlachtengebieter, erloschenen Auges. Und den Sarg umstehen flammende Kerzen, und auch hier halten Soldaten des Königs Wacht, bis der stürmende Eilzug ihn fortträgt unter die stillen, eben ihr Frühlingskleid anlegenden Bäume des Landguts, auf denen so oft sein Auge geruht hat, während er noch weilte unter den Lebenden. – –



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Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.

(Schluß.)

Der Sommer zog vorüber, der Herbst brach herein. Durch die Lüfte tobte das wilde Heer in schauerlichen Sturmnächten, die rostigen Windfahnen kreischten in ihren Angeln und die Funken der Hüttenschlote stoben nach allen Richtungen auseinander. Die alten Mauern des Herrenhauses aber schirmten gut die einsame Frau und ihr Kind, die sich ihnen anvertraut hatten. In dem riesigen grünen Kachelofen leuchtete die Gluth auf unter der Wuth des Sturmes. Leise knisterte die Nachtlampe und leise athmete das Kind in seinem Bettchen.

Das große Lager aber stand unberührt; Frau Antje konnte nicht schlafen. Sie dachte an ihren Hochzeitstag im vorigen Jahre, da er sie zum ersten Male hatte empfinden lassen, daß sie eine ungeliebte Gattin, eine unbedeutende Frau sei, und sie dachte an alle die trüben schweren Tage, die diese Stunde im Gefolge gehabt hatte. Die letzte Zeit aber erschien ihr doch als die schwerste. Anfänglich, als Leo gegangen war, hatte sie auf ein paar Abschiedszeilen gewartet – es war keine Nachricht gekommen, auch später nicht – nie mehr. Maiberg reiste ab, auch er wußte nichts von Leo.

Hilde hatte schon vorher „Gottessegen“ verlassen, um zu den Eltern zurückzukehren. Der Bräutigam war ihr gefolgt, und vor einigen Tagen hatten sie Hochzeit gehalten. Der Dampfer, der sie nach Rio de Janeiro trug, schwankte wohl schon auf den Wellen des Oceans. Tante Polly war auch zur Vermählung erschienen, die zugleich zur Versöhnungsfeier ward. Ein Kärtchen, welches Hilde noch kurz vor ihrer Trauung gekritzelt hatte, um sich für ein kostbares Hochzeitsgeschenk bei Antje zu bedanken, meldete es, erzählte auch von einem anderen Geschenk, einer – Antje konnte es kaum entziffern – einer ganz entzückenden Statuette aus Erzguß, einen kleinen Amor mit verbundenen Augen darstellend. Aber diese leichtsinnige glückliche Hilde hatte kein Wort geschrieben, wo es herkam, dies Geschenk, aus welcher Stadt, aus welchem Lande. Auch in den ernsten Zeilen des Bräutigams stand nichts von dem Freunde, nur ein herzliches Glück auf! für kommende Zeiten, eine Bitte um treues Gedenken, die Hoffnung auf ein Wiedersehen. – Er wußte wohl auch nichts Bestimmtes, oder wollte es nicht sagen.

Antje war standhaft und tapfer; sie suchte Ruhe in der Arbeit, und sie hatte deren mehr als genug; ein Wunder, wie sie dieselbe bewältigte. An die neue Herrin wurden Ansprüche gemacht seitens der Arbeiter, die man der alten Frau Bergrath nicht zugemuthet hätte – es war eben eine andere Zeit angebrochen, und Antje verstand ihre Zeit. In jeder Weise ward sie billigen Forderungen gerecht, sie hatte aber auch den Muth, Unbescheidenheit zurückzuweisen, und zwar in persönlicher Verhandlung mit den Leuten. Und als ein baumlanger riesiger Arbeiter ihr in respektwidriger Weise eine Drohung zurief – sie stand, etwas höher als die Leute, auf einer Stufe der Treppe in der Halle – wies sie ihn mit wenigen Worten hinaus und seine Entlassung folgte auf dem Fuße.

Der alte Herr Kortmer, die jungen Herren des Kontors hatten ihren Ohren nicht getraut, und ersterer bat Frau Antje dringend, ihre einsamen Spaziergänge einzustellen, denn der Entlassene sei ein rachsüchtiger Mensch und zu allem fähig. Aber Antje schüttelte lächelnd den Kopf und ging noch an demselben Abend in die Wohnung des großen frechen Gesellen, um dessen Frau, die ein drei Tage altes Kind hatte, zu benachrichtigen, daß sie ruhig bleiben könnte in dem Quartier, bis sie wieder völlig gesundet sei und ihr Mann eine andere Stelle gefunden habe. Sie hatte dafür zwar keinen Dank erhalten; der Mann, der mit geballter Faust am Tische saß, sprach kein Wort, nur die finsteren Augen redeten an ihm, und das war nichts Gutes. Antje bemerkte es scheinbar gar nicht. Nach drei Tagen aber kam der lange Kerl zu ihr und bat, bleiben zu dürfen; er habe gesehen, sie sei gerecht und barmherzig, und er wolle nie wieder drein reden. Und Antje gewährte ihm eine Probezeit, von der sie seine Wiederanstellung abhängig machen werde.

Der Bau des neuen Hochofens war in Angriff genommen, das Material der Erzgrube vorzüglich; man konnte größere Lieferungen übernehmen als früher, und das Personal ward vermehrt. Antje hatte die Baupläne für Arbeiterwohnungen und für das Krankenhaus auf ihrem Arbeitstische liegen, der Anschlag für das Wohnhaus eines Hüttenarztes war bereits von ihr genehmigt, und sie suchte selbst den Platz dazu aus; es sollte ein Schweizerhaus werden. Im übrigen lebte sie vollständig einsam, die Trauer um ihre Mutter bot hinreichend Grund dafür. Welche Auslegung man der Abwesenheit ihres Gatten gab, wußte sie nicht, wollte es auch nicht wissen. Herr Kortmer sorgte dafür, daß man annehmen mußte, Herr Jussnitz befinde sich auf einer Studienreise in Italien.

Höchstens zu der Pastorfamilie ging Antje, oder die alte Frau Kortmer kam auf ein Plauderstündchen mit ihrem ungeheuren Pompadour, in dem immer eine kleine Näscherei für das Kind steckte; und sie sprachen dann von den Zeiten, als die Eltern Antjes noch lebten. Mitunter erschien auch die Frau Försterin; sie kam zu gern, denn in Antjes Zimmer stand auf einem kleinen Wandbrette die Photographie der „Brockenhexe“, und das eitle junge Weib hatte ein großes Vergnügen daran, das Bild anzuschauen.

In ihren Erholungsstunden las Antje; nie im Leben hatte sie soviel Ruhe dazu gehabt. In ihrem Bücherschrank entdeckte sie wahre Schätze; und sie suchte nicht etwa leichte Lektüre auf, sondern wählte belehrende Abhandlungen und Geschichte, vor allem Kunstgeschichte. Sie hatte in den Unterrichtsstunden bei dem Herrn Pastor früher das alles schon gelesen, jetzt that sie es mit brennendem Eifer, mit erwachtem Verständniß noch einmal. Die trüben Gedanken, die nach dem Zuschlagen des Buches kamen, die Fragen an die Zukunft, auf die keine Antwort war als die eine: – „Geduld!“ – suchte sie bei der Kleinen zu vergessen.

Heimlich aber flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr, die von Hoffnung und kommendem Glücke sprach, ein Ahnen kam ihr, als ob irgendwie die Wolken, die so schwer über ihrem Hause hingen, sich ein wenig, ein ganz klein wenig theilen müßten, um einen – nur einen einzigen Hoffnungsstrahl hindurch zu lassen.

Sie stieg am frühen Morgen die Treppe hinunter in das Eßzimmer, um ihr Frühstück zu nehmen. Ein grauer naßkalter Oktobermorgen blickte durch die Fenster; ihre Tasse stand da so einsam auf dem großen Tische, die winzige Kanne, die das Mädchen herbeitrug, enthielt nur für eine Person den Thee – er wollte der jungen Frau nicht schmecken.

„Heute vor fünf Jahren!“ klang es ihr immerfort durch den Sinn. Heute vor fünf Jahren, da lachte die Sonne hier herein, und überall hingen Kränze und Tannengrün; heute vor fünf Jahren saß da zum letzten Male zwischen den Eltern ein junges blondes Mädchen beim Frühstück. Sie konnte ihren Thee gar nicht trinken, weil jedes der beiden alten Leute eine ihrer Hände erfaßt hatte und eins um das andere sie küßte und streichelte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_351.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2023)