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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Leas Kopfschmerzen nahmen so zu, daß sie unfähig war, noch stehen und gehen zu können.

Sie wankte in ihr Zimmer, legte sich zu Bett und ließ sich Eisumschläge auf die Stirn machen.

„Wenn ich Ludwig zu ihm schicken würde?“ dachte sie.

„Hinschicken? Ihn rufen? Zeigen, wie man leidet? O nein!“

Ein letzter Rest von weiblichem Stolze bäumte sich in ihr auf.

Es wurde Abend. Ihr Vater saß lange still an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sprechen konnte sie nicht, aber ihr Blick, matt unter halbgesenktem Lid, suchte ihn.

Er war sehr blaß und seine Augen waren feucht.

„Lea,“ begann er mit einmal aus einem Gedanken heraus, den er verfolgt hatte, „ich habe mich gefragt, ob wir ihm schreiben sollen, oder ob ich selbst hineinfahren könne zu ihm. Aber wir dürfen es nicht. Weiß Gott, es geht nicht. Das Warten will ertragen sein.“

Lea preßte mit ihren Fingern seine Hand. Ja, sie empfand es auch, das Warten wollte ertragen sein.

Die Nacht brach an. Frau von Römpker erbot sich, bei Lea zu wachen, doch Lea sagte, daß sie nur ein wenig Kopfschmerzen habe und daß Ruhe für sie am besten sei.

Man ließ die Thür nach dem Ankleidezimmer offen und in diesem eine Lampe brennen. Uebrigens hatte ja Lea neben ihrem Bett den Knopf einer elektrischen Glocke, mittels welcher die Jungfer ihrer Mutter jeden Augenblick geweckt werden konnte.

Lea war allein. Sie sah unverwandt den Lichtstreifen an, der breit durch die Thür kam, auf dem Fußboden lag und dann in einem Winkel schräg an der Wand aufstieg.

Der unglückliche Falter am Betthimmel wachte wieder auf und flatterte an der Decke des Zimmers schattenhaft umher. Zuweilen senkte er sich und taumelte über Leas Gesicht in solcher Nähe hin, daß er ihr ein widriges Gefühl verursachte; endlich fand er den Weg zum Licht. Lea hörte, wie er nebenan ab und zu dumpf gegen die Lampenglocke stieß.

Sie lag ganz regungslos, und allmählich, in der Dauer von Stunden, wurde ihr schmerzender Kopf freier. Aber der Schlaf kam nicht auf ihre Lider.

Und plötzlich brach sie in ein Weinen aus.

Sie preßte die gefalteten Hände vor ihr Gesicht und ihre umhergehetzten Gedanken lösten sich in einem Gebet.

„Nimm ihn mir nicht, Gott! Ich liebe ihn zu sehr. Seit heute weiß ich erst, wie sehr. Vergieb mir, daß ich ihn lassen wollte! Ich will ihn glücklich machen und ein edler Mensch werden.“

Und weil sie in Noth war, geschah es ihr wie Hunderten von Menschen: da demüthigte sie ihre Seele und flehte zu Gott, den sie im Alltagsleben so wenig brauchte.

Als sie gebetet hatte, fühlte sie sich sehr beruhigt. Ihr schien es, als könne einer so selten Bittenden der liebe Gott nichts abschlagen.

Sie schlief ein.

Am nächsten Morgen fand sie ihren Vater allein unten; die Mama ließ um Entschuldigung bitten, daß sie heute im Bette frühstücke.

Lea sah todtenbleich, aber gefaßt aus. Sie wußte, heute kam die Entscheidung, und sie glaubte an eine erlösende.

Aber sie sprachen wenig zusammen bei diesem Frühstück.

Da erschien Ludwig mit strahlendem Gesicht.

„Der Bursche mit diesem Brief vom Herrn Grafen ist gekommen und sagt, Antwort sei nicht nöthig,“ meldete er.

Seine treue Seele freute sich, eine Botschaft bringen zu können, denn er hatte seit vorgestern abend Unheil gewittert.

„Es ist gut,“ sagte Herr von Römpker und nahm ihm den Brief ab.

Leas Aufregung steigerte sich so, daß sie eine förmliche physische Uebelkeit davon empfand.

„Lies!“ sagte sie heiser.

„Er ist an Dich!“

„Einerlei! Ich kann nicht,“ stieß sie hervor.

„Lea,“ begann Römpker mit fast flüsternder Stimme zu lesen, „ich muß Dir für immer Lebewohl sagen!“

Da stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus und mit einem verzweifelten Satz war sie neben ihrem Vater und riß ihm das Blatt aus den Fingern.

Sie hielt es zwischen ihren beiden Händen, sah hinein mit vorgeneigtem Haupt. Ihre Lippen lallten die Silben nach.

„Un – würdig – des Na – mens – ei – ner Gräfin – Clai – ron …“

Und das stramm auseinander gehaltene Briefblatt riß mitten durch.

Lea brach in die Kniee. Sie stemmte die Fäuste auf den Fußboden und neigte den Kopf, tief, tief.

So blieb sie lange und ihre Augen bohrten sich in das Holz des Fußbodens.

Ihr Vater stand und barg sein Gesicht in den Händen.

Wie lange sie so blieben, sie wußten es beide nicht. Minuten? Eine Stunde?

Diese Zeit war länger, als ihr ganzes bisheriges Leben ihnen gewesen war.

Endlich raffte Lea sich empor und trat vor ihren Vater. Aus ihrem weißen Gesicht flammten ihn ihre Augen an. Sie packte mit festem Griff sein Handgelenk und sagte mit ihrer tieftönigen Stimme, die jetzt hart und gebieterisch klang:

„Du wirst alles thun, was ich will?“

„Alles, mein Kind,“ sagte er zitternd.

„So laß uns in die Welt hinaus. Am liebsten heute noch. Er soll erkennen, wen er in mir verwirft.“

Römpker umarmte seine Tochter. Er war von Centnerlasten der Angst befreit durch diesen „verständigen Wunsch“.

(Fortsetzung folgt.)



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Kissinger Brunnenpromenade.

(Zu dem Bilde S. 413.)

Kurbäder und Kurbrunnen erfreuen sich eines hohen Alters. Wenn Faust in seiner Apotheose an den Mond sich dahin äußert:

„Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Thau gesund mich baden,“

so ist das nichts anderes, als was heute ein durch seine Studien überangestrengter, nach dem ewigen Stubenhocken und Bücherstaubschlucken an Brust und Magen leidender Herr Professor an Karls-, Marien- oder irgend ein anderes Bad ausrufen könnte. Und wenn die Griechen von der kastalischen Quelle schwärmten, welche die Trinkenden zu Poeten machte, oder die Edda von dem Born erzählt, an dem die Asen ewige Jugend sich tranken, so ist das sicher so eine Art Apollinaris oder Gieshübler, Faulbrunnen, Rakoczy oder Vichy gewesen, welcher die Gesundheit zurückgab, so daß die kranken Leute sich plötzlich verjüngt und zu lyrischen Extravaganzen angeregt fühlten.

Thermen wurden schon bei den ältesten Kulturvölkern aufgesucht, aber bis in unser Jahrhundert war das Reisen ein so unverhältnißmäßig theures Vergnügen, daß es sich nur wenige bevorzugte Große leisten konnten, und erst seit der Erfindung der Eisenbahn, eigentlich erst seit den letzten Jahrzehnten der Rundreisekarten, der chemischen Analysen, der telegraphischen Depeschen, der Prospekte und Cirkulare hat das moderne Bäderleben wie alles, was heute geboten wird, Bedeutung für alle Schichten des Volkes gewonnen und besitzt in Hunderttausenden von bürgerlichen Familien eine Wichtigkeit, wie man sie früher nicht einmal ausdenken konnte. Nach einem alten Naturgesetz zieht die Kälte zusammen, dehnt die Wärme aus. In den Wintermonaten rücken alle Familienmitglieder gemüthlich in den erwärmten Räumen der Häuslichkeit zusammen, sobald aber die Sonne ihre Strahlen senkrechter zur Erde sendet, treibt es in den Städten wie in einer Tonne gährenden Mostes, und es ist, als ob die Moleküle es nicht mehr nebeneinander aushalten könnten, der Gatte trennt sich von der Gattin, der Bruder von der Schwester, und in weite Kreise sich dehnend, zerstreut sich die Familie nach den verschiedensten Sommerfrischen, in die Alpen, an die See, vor allem in die Bäder!

Ich muß offen gestehen, daß ich mich noch niemals zum Kurgebrauch in einem Badeorte aufgehalten habe: wenn ich also darüber berichte, so thue ich dies gewissermaßen mit der „Objektivität vollster Unkenntniß“; aber ich habe doch einen großen Theil derselben als Tourist kennengelernt, und selbst ein solcher kann sich nicht ganz dem gewinnenden Eindrucke dieses geschäftigen Schlaraffenlebens entziehen. Während man sich das Jahr über nur mit Menschen zusammengespannt sieht, die bis zur Ermüdung des Geistes oder Körpers angestrengt arbeiten, wobei ich allerdings Bälle, Diners, Konzerte, Vorträge, Theater, Besuch von Bildergalerien und Ausstellungen auch ein bißchen in die „Arbeit“ einzuschließen mir gestatte, sehen wir uns hier umringt von Tausenden, welche kaum an etwas anderes denken, als wieviel Schritte sie vor Tisch und nach Tisch gehen, wie lange sie schlafen, wieviel Becher sie vor dem Frühstück nehmen dürfen, wann sie sich heute zum Bade einstellen, ob sie dies oder jenes Gericht bei Tisch an sich vorübergehen lassen müssen oder ob sie es sich genehmigen dürfen, welchen sanften Spaziergang sie diesen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_414.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)