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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel.
II.
Die Kriminalpolizei. – Grüner Wagen. – Der Polizeigewahrsam. – List wider List.

Unsere Leser haben aus der Schilderung unseres ersten Artikels in Nummer 15 eine Vorstellung gewonnen von dem vielumfassenden Organismus der Berliner Polizei. Fast möchte ihnen dabei das Bild eines jener sagenhaften Ungeheuer aufgestiegen sein, mit welchen einst die erregbare Phantasie seefahrender Stämme ferne Meere bevölkerte, eines jener Riesenkraken, der zahllose Arme zumal nach seiner Beute ausstreckt, um sie mit unentrinnbarer Sicherheit zu umgarnen. Nun, die Polizei kann sich den Vergleich mit diesen unheimlichen Geschöpfen gefallen lassen, sofern man sich bewußt bleibt, daß es ja nur die Schädlinge der menschlichen Gesellschaft sind, auf welche sie es abgesehen hat. Auf keinen Theil des Ganzen dürfte aber das Bild von dem tausendarmigen Fabelwesen besser zutreffen als auf die Kriminalpolizei. Wir müssen uns zunächst, um dies anschaulich zu machen, wieder etwas mit der Zergliederung dieses Körpers befassen.

Das Kriminalkommissariat bildet, wie wir bereits in unserem ersten Aufsatz kurz hervorgehoben haben, eine besondere Gruppe der umfangreichen vierten Polizeiabtheilung, welche sich mit dem gesammten Sicherheits- und Sittendienst Berlins zu beschäftigen hat, und zerfällt wiederum in drei Kriminalpolizei-Inspektionen; an deren Spitze steht je ein Inspektor, dem mehrere Kriminalkommissare sowie eine größere Anzahl von Kriminalwachtmeistern und -schutzleuten zugetheilt sind, während die oberste Leitung in den Händen des „Chefs der Kriminalpolizei“ ruht, gegenwärtig in denen des Grafen Pückler, eines ebenso umsichtigen und pflichteifrigen, wie gegen seine Untergebenen liebenswürdigen und gerechten Beamten. Die erste Kriminalinspektion umfaßt acht Bezirkskommissariate, welche in Anlehnung an die acht Bezirkshauptmannschaften Berlins eingerichtet sind und die minder wichtigen Sachen bearbeiten, namentlich Gelegenheitsdiebstähle, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüche, Beleidigungen, strafbaren Eigennutz etc. Die zweite Inspektion bearbeitet die Anzeigen derjenigen Vergehen und Verbrechen, bei denen eine ausgebreitete Personalkenntniß die Ermittelung insofern erleichtert, als bei bestimmten Vergehen und Verbrechen – wir nennen nur Einbrüche, Taschen-, Kolli-, Laden-, Schlafstellen- und Marktdiebstähle, gewerbsmäßiges Hazardspiel, Hochstapelei etc. – der Thäter von vornherein in bestimmten Kreisen bekannter Personen zu suchen ist. Die dritte Inspektion beschäftigt sich mit Anzeigen über betrügerischen Bankerott, mit Postunterschlagungen und -schwindeleien, mit Wuchersachen, Wechselfälschungen, Münzverbrechen, Häuserschwindel und Patentverletzung.

Der Geschäftsgang dieses Kriminalkommissariats, welches seinen Sitz im Polizeipräsidialgebäude hat, ist folgender: die Anzeigen über vorgekommene Vergehen und Verbrechen werden zunächst in den einzelnen Polizeirevieren erstattet, von denen zweiundachtzig über ganz Berlin verstreut sind, und diese lassen die Meldungen, Protokolle etc. auf dem vorschriftsmäßigen Wege der Centralbehörde zugehen; hier werden sie dem Chef vorgelegt und von diesem je nach ihrer Abart einer der drei Inspektionen, bei der ersten je nach dem Thatort einem ihrer acht Bezirke zur Bearbeitung überwiesen. Der Vorsteher der zweiten Inspektion, mit welcher wir uns hier besonders zu beschäftigen haben, zur Zeit Herr von Meerscheidt-Hüllessem, theilt wiederum die ihm zugegangenen Sachen den bei ihm beschäftigten Kriminalkommissaren und Wachtmeistern zu und behält sich von vornherein die Einwirkung auf die Bearbeitung und die Schlußprüfung vor. So ist er stets über alle in der gewerbsmäßigen Verbrecherwelt vorkommenden Bewegungen unterrichtet und kann jederzeit seinen Kriminalkommissaren wie seinen Mannschaften die entsprechende Hilfe gewähren.

Bei besonders wichtigen Angelegenheiten erhält selbstverständlich diese zweite Inspektion telegraphische Nachricht seitens der einzelnen Polizeireviere. Nehmen wir an, bei einem der letzteren sei ein Mord oder Raubmord angezeigt worden; sogleich wird durch eine Ordonnanz der Bezirksphysikus zur Stelle gerufen; der Chef der Polizei, das Kommando der Schutzmannschaft, die Polizeihauptmannschaft, zu welcher das betreffende Revier gehört, der Chef der Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft, die Kriminalabtheilung und das Leichenkommissariat – sie alle werden durch Depeschen benachrichtigt. Währenddessen ist der Vorstand jenes Polizeireviers mit den gerade verfügbaren Schutzleuten an den Thatort geeilt und hat ihn derart abgesperrt, daß alles so erhalten bleibt, wie man es vorgefunden hat; in kürzester Frist erscheinen dann die Beamten der benachrichtigten Behörden, hauptsächlich der Kriminalabtheilung und Staatsanwaltschaft, und veranlassen das Weitere; der Reviervorsteher aber, zumeist ein Polizeilieutenant, muß umgehend seine Berichte über das am Thatorte Gesehene und Gehörte an den Polizeichef, an den Oberregierungsrath (Stellvertreter des ersteren und Dirigent der ersten Polizeiabtheilung), an die Staatsanwaltschaft und an die Kriminalabtheilung erstatten. Letztere entfaltet alsdann eine fieberhafte Thätigkeit; vor allem werden jene Kriminalbeamten, die sich zur Zeit nicht im Dienst befinden, telegraphisch von dem Ereigniß unterrichtet mit der Verfügung, sich aufs schleunigste im Präsidialgebäude einzustellen; hier laufen alle Fäden zusammen, oft ein kaum entwirrbares Netz bildend, in welchem der Schuldige gefangen werden soll. Tag und Nacht herrscht die unermüdlichste Rührigkeit: Berathungen werden abgehalten, einzelne Verhaltungsmaßregeln ertheilt, Zeugen vernommen, Verdächtige vorgeführt, Aussagen protokolliert und verglichen, Depeschen nach auswärts gesandt und empfangen – eine auch den Unbetheiligten mitreißende nervöse Aufregung durchzittert gewissermaßen jenes der Kriminalabtheilung eingeräumte Viertel des gewaltigen Polizeipalastes und läßt erst nach, wenn die Kunde von der Ergreifung des Thäters durch den Blitzfunken hierher übermittelt wird.

Der Thäter oder – um den Einzelfall zu verlassen – alle diejenigen, welche sich eines Verbrechens oder Vergehens schuldig gemacht oder in irgend einer Weise durch Lärm, Trunkenheit, Mißhandlung, Widerstand etc. öffentliches Aergerniß erregt haben, werden dem nächsten Polizeirevier eingeliefert, dessen Vorsteher das Protokoll aufnimmt; können die bei leichteren Ueberschreitungen Betroffenen einen Ausweis beibringen, so werden sie alsbald wieder entlassen; die anderen werden in dem Arrestlokal oder bei schweren Vorkommnissen in der Einzelzelle so lange in Haft behalten, bis sie nach dem Polizeipräsidialgebäude verbracht werden. Das letztere geschieht vermittelst des sogenannten „Grünen Wagens“, welchem die Berliner mancherlei Spitznamen, wie „Grüner Anton“, „Grüner Heinrich“, „Kriminalequipage“ u. s. w., gegeben haben. Sieben solcher Wagen sind fast stets unterwegs, da jeder von ihnen im Laufe von vierundzwanzig Stunden viermal nach den Polizeirevierwachen fährt, welche Gefangene beherbergen. Die Nachricht, daß Gefangene vorhanden sind, kommt dem Polizeipräsidium telegraphisch in denkbarster Kürze zu: nur die Nummer des Reviers und die Zahl der Gefangenen vor einem „G“ wird mitgetheilt. Die Wagen gehen früh um acht, dann mittags um zwölf, abends um acht und nachts um zwei Uhr ab und kehren je nach der Entfernung möglichst rasch mit ihrem lebenden Inhalt wieder zurück. Jeder von ihnen kann sechzehn bis achtzehn Insassen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_456.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)