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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Arme, heißt es da, hat vor dem Reichen voraus, „daß er in Sicherheit schläft.“ „Er hat den Vortheil, daß er nicht zum Markte zu gehen braucht,“ meint der Schalk, und „wer kein Geld hat, dem fällt’s auch nicht durch die Finger“. Noch mehr, Armuth ist gut gegen das Podagra, indeß der Reichthum zur Wassersucht führt: „gewinnsüchtig, wassersüchtig.“

Auf diesem Wege kommt die Lebensphilosophie im Volke schließlich zu der Erkenntniß, daß „nicht der reich ist, der viel hat, sondern der, der wenig bedarf“, und daß nur der wahrhaft reich ist, dessen Reichthum nicht äußerlich sichtbar ist, sondern im Innern lebt. Diesen inneren Reichthum an Geist und Gemüth, „stiehlt auch kein Dieb.“ „Fröhliche Armuth,“ heißt es in anderer Weise, „ist Reichthum ohne Gut.“ So führt die Spruchweisheit des Volkes zu einer Ausgleichung des Unterschieds zwischen arm und reich.

„Ist einer noch so reich,
Im Denken ist ihm der Arme gleich.“

und „was die Armuth schwer macht, macht auch den Reichthum schwer.“ Sie kommt zuletzt dahin, zu behaupten, daß der reicher ist, der den Reichthum verachtet, als der, welcher ihm nachläuft und ihn an sich zwingt.

Armuth und Reichthum müssen sogar in der Welt gleichzeitig bestehen und nebeneinander hergehen. Es ist dies eine Nothwendigkeit, denn, sagt der Spruch des Volkes zur Beruhigung aller sozialen Unzufriedenheit:

„Wenn wir alle wären reich
Und einer wär’ dem andern gleich
Und wären alle zu Tisch gesessen,
Wer trüge dann uns auf das Essen?“

Wenn aber eine Ausgleichung zwischen arm und reich nicht im Leben eintritt, so tritt sie jedenfalls ein im Tode.

„Arm und reich,
Der Tod macht alles gleich.“

Fr. Helbig.     




Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(10. Fortsetzung.)

Fräulein Malchen hatte schon lange nach Rahel ausgesehen, nicht gerade in Sorgen, daß ihr etwas widerfahren sei, sondern mehr aus Ungeduld, denn von den „Reisenden“ waren Briefe eingetroffen.

Flur und Wohnzimmer waren schon erleuchtet, als Rahel im Schloß ankam. Sie bat nicht um Erlaubniß, sich zurückziehen zu dürfen; ihre Rücksicht gegen ihre „Ehrendame“ ging so weit, daß sie diese nicht allein lassen mochte. Fräulein Malchen hätte auch die Nacht nicht geschlafen, wenn der Inhalt der Briefe ihr nicht sofort bekannt geworden wäre. Sie begleitete Rahel förmlich als Wache, sah zu, wie diese sich andere Schuhe anziehen ließ, und wartete, bis sie wieder mit ihr treppab stieg; Rahel mußte trotz ihrer Wehmuth lächeln.

„Liebes Malchen,“ sagte sie, „ich laufe Dir wirklich nicht davon mit den Briefen.“

Unter der Lampe auf dem Sofatische lagen sie, drei an der Zahl. Rahel seufzte. Diese Briefe der Ihrigen hatten ihr seither immer einige harte Stunden gebracht, denn ausdrücklich oder zwischen den Zeilen pflegten Dinge drin zu stehen, die wie Nadelstiche wirkten. Außerdem stimmten sie niemals überein, aber gerade deshalb konnte Rahel sich stets die mittlere Wahrheit daraus zurechtlegen. Sie hatte daher auch schon die Gewohnheit angenommen, sie jedesmal in der gleichen Reihenfolge zu lesen. Auch heute begann sie mit den Zeilen der Mutter.

„Mein liebes Kind!“ – Rahel las laut vor, nachdem sie die Worte schnell überflogen hatte – „Ich bin ganz abgespannt und werde Dir nicht viel schreiben können. Meine Gesundheit wird ganz zerstört durch dies unruhige Reiseleben, zu welchem uns ja das Unglück der armen Lea zwang. Lea wird sich nie trösten. Sie klagt nicht, aber dies stumme Leid zu sehen, ist mir schrecklich. Sie sieht leichenblaß aus, und leider ist sie noch hochfahrender geworden, als sie früher war. Man feiert sie ungemein. Aber eben deshalb wollen wir nun Wiesbaden verlassen und nach Paris gehen. Es drängte sich hier eine Persönlichkeit an Lea, der wir entfliehen wollen, weil sie sehr abenteuerlich ist. Ein russischer Fürst – wahrscheinlich ein Schwindler. Papa macht mir auch Sorgen, er giebt schrecklich viel Geld aus. Wie soll das erst in Paris werden! Ueberhaupt wird mich Paris tödten.

Ich weine Tag und Nacht. Grüße mir mein liebes, theures Malchen und theile uns bald mit, wie es Dir geht! Wie glücklich bist Du, auf Römpkerhof leben zu können!

Deine arme Mama.“ 


Malchen trocknete ihre Thränen. „Ja,“ sagte sie, „meine Alide opfert sich für ihre Familie auf. Ach, daß auch alles so kommen mußte!“

Rahel hatte inzwischen schon den zweiten Brief, den ihres Vaters, gelesen und machte jetzt auch Malchen mit dessen Inhalt bekannt.

„Mein Schätzchen!“ schrieb Römpker, „Es wird mir schwer, eine ruhige Stunde für Dich herauszufinden, und ich muß mich mit wenigen Zeilen begnügen. Das war eine famose Zeit hier, das Faulenzen bekommt großartig; selbst Briefe zu verfassen, scheint schon eine Last. Und nun: auf nach Valencia, das heißt nach Paris. Lea, die hier ungeheuer gefeiert wurde, will Paris sehen. Da paßt sie auch hin. Aufsehen hat sie hier gemacht, sage ich Dir, und mit einer königlichen Haltung hat sie die Huldigungen hingenommen – großartig! Verändert hat sie sich, es ist wahr. Sie ist bleicher und stiller geworden, aber sie ist immer die große Dame und regiert mit einem halben Lächeln alle ihre Vasallen. Besonders ist der Fürst Dasanoff ihr Verehrer. Ein Prachtmensch! Unermeßlich reich, Freund des Zaren, älteste Familie Rußlands. Ich denke, er folgt uns nach Paris, wo ich den russischen Botschafter gut kenne; bei dem kann ich mich noch nach Dasanoff erkundigen.

Wie sieht es denn auf Römpkerhof aus? Du armes Schäfchen langweilst Dich wohl halb todt? Aber gewissermaßen bist Du ja an allem schuld. – Sage doch dem Verwalter, daß er die nächste Geldsendung nach Paris an die beigelegte Adresse richten soll.

Ich küsse Dich innig, meine kleine Schloßverwalterin!

Dein treuer Papa. 

P. S. Mama und Lea geht es vortrefflich; sie schreiben auch noch selbst.“

Hier vergoß Fräulein Malchen natürlich keine Thränen, sondern gab sich Mühe, nichts zu sagen, konnte sich indessen nicht enthalten, sehr laut und sehr deutlich zu seufzen, – eine Kritik, welche von Rahel völlig verstanden wurde.

Das Mädchen erröthete, sie gestand niemand das Recht zu, ihren Vater zu bekritteln. Ueber seine Fehler heimlich weinen – ja, das konnte sie, aber einen Tadel über ihn hören, nein – und wenn der Tadel auch nur in Form eines Seufzers vorgebracht wurde.

„Papa ist doch eine sonnige und liebenswürdige Natur,“ begann sie deshalb, „ich kann mir denken, wie er alle Welt für sich einnimmt.“

„Ja, besonders dadurch, daß er viel ausgiebt,“ erwiderte Fräulein Malchen, die, wenn man sie reizte, schlagfertig wurde, eine Fähigkeit, die gerade untergeordneten Geistern eigen ist, während der vornehm Denkende dann verstummt. So fand auch Rahel vor Erstaunen über diesen Mangel an Takt kein Wort. Nach einigem Zögern ging sie zu Leas Brief über. Dieser war der kürzeste von den dreien.

„Liebe Rahel, willst Du die Güte haben, mir als Eilfracht meine weiße Atlasrobe sowie das hellgrüne und das rosa Ballkleid herzusenden? Ich nehme sie am besten von hier als Passagiergut mit nach Paris, und ich glaube, sie sind mit einigen Veränderungen noch werth, angezogen zu werden. Man braucht unglaublich viel große Toilette, während ich ja mehr Straßenkostüme mitnahm. – Es war ziemlich langweilig in Wiesbaden. Von Paris verspreche ich mir auch nichts. Du verlierst wirklich kaum etwas durch das Zuhausebleiben.

Herzlich Deine Lea.“ 

Und da brach es aus, was seit Stunden in Rahels Seele gewühlt hatte. Trotz Malchens Gegenwart fing sie an, bitterlich und ohne Aufhören zu weinen.

Malchens im Grunde gutes Herz fühlte sich in äußerste Mitleidenschaft gezogen. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Rahel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_462.jpg&oldid=- (Version vom 2.9.2023)