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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

man die Verantwortung nicht allein! Na, nehmen Sie jetzt, was ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, und das Ding wird sich wohl geben!“

Frau Schulze gehorcht und ihr Zustand macht sich wieder. Sie lobt seitdem den alten Müller und schwört sogar auf seinen Senfspiritus. Allein der alte Müller stirbt und ein junger Arzt, der von Frau Doktor Müller sehr warm empfohlen wird, übernimmt die Praxis. Er macht seine Aufwartung, und es geht nicht wohl anders, man muß ihn als Hausarzt nehmen.

Tantchen bekommt einen recht häßlichen Katarrh. Der junge Doktor Meyer hat sie, seit er da ist, schon öfter behandelt und immer mit Erfolg. Dieser Katarrh jedoch will seinen Mitteln nicht weichen. Anfangs trank sie Selterswasser mit Milch, dann machte sie nasse Umschläge, dann aber – lieber Gott, der Mensch hat doch eigentlich so gut wie gar nichts verordnet! Viel Milch soll sie trinken und viel Butter essen – das ist doch keine Medizin! In dem größten Raume, der ihr zur Verfügung steht, soll sie schlafen – sie kann doch das Nest nicht im Salon aufbauen! Die Arme über einem Stock im Rücken, soll sie bei offenem Fenster täglich viermal eine Viertelstunde tief Athem holen – das wird viel nützen! Zwei Stunden täglich soll sie spazieren gehen – dazu hat sie gleich Zeit! Mit kaltem Wasser soll sie sich allabendlich vor dem Schlafengehen abreiben – daß sie ein Narr wäre und sich noch mehr erkältete! Pillen hat er dann noch verordnet – nun, die nimmt sie. Das ist doch wenigstens eine ordentliche Medizin, die man in der Apotheke holt. Milch kann sie nicht trinken, die erregt ihr Ekel, und Butter will sie auch nicht essen. So lange sie sich denken kann, hat sie bloßes Fett aufs Brot grstrichen und sich immer wohl dabei befunden. Der Katarrh wird zu Anfang des Herbstes schlimmer. „Führen Sie denn aber auch alles gewissenhaft aus, was ich Ihnen gerathen habe, Frau Schulze? Ich traue Ihnen nicht recht!“ fragt Dokor Meyer.

„Na, ich werde doch! Ich verschlucke ja schon das zweite Hundert Pillen!“

Der Neffe, welcher Tantchen damals überredet hat, mit nach der Residenz zu fahren, kommt wieder zu Besuch. „Wie lange hast Du denn das Gekrächze schon, Tantchen?“ erkundigt er sich theilnehmend, und man giebt ihm Auskunft. „Hm“ – macht er wie damals, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Meyer.“

„Doch nicht der junge Mensch, mit dem wir gestern abend Billard gespielt haben?“ wendet sich der Residenzler an den Sohn des Hauses.

„Derselbe!“

„Aber Tantchen, nimm mir’s nicht übel, das ist riesiger Leichtsinn! Der Mensch hat ja noch keine Erfahrung, er macht seine Experimente mit Dir! Nein, ich bitte Dich, mit einem solchen Katarrh ist nicht zu spaßen! Thu’ mir den einzigen Gefallen und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach X. zum Professor Y. Das ist ein alter erfahrener Herr und Spezialist in der Sache! Fiele mir ein, mich hier zum Versuchsobjekt herzugeben!“

„Du weißt immer etwas!“ sagt Tantchen ärgerlich. „Doktor Müller war damals zu alt, und der neue ist nun wieder zu jung! Wie muß denn der beschaffen sein, den Du gelten läßt?“

Doch das Ding geht ihr im Kopfe herum. Damals mit dem alten Müller hat der Neffe Unrecht gehabt, allein jetzt … Doktor Meyer ist wirklich noch recht jung. Tantchen läßt sich überreden und fährt zu Professor Y., aber sie sagt es vorher dem Doktor Meyer, dem Arzt ohne Erfahrung. „Thun Sie das nur, Frau Schulze,“ sagt er. „Der Professor ist ein sehr tüchtiger Mann. Aber befolgen Sie dann auch, was er verordnet! Sagen Sie ihm, daß Sie einen Herzfehler haben und viel an Rheumatismus leiden – und nehmen Sie ihm nichts übel!“ Er drückt die Augen ein wenig zusammen und sieht sie verschmitzt an. Tantchen reist also und erwischt glücklich den Spezialisten, und da er nicht nur wegen seinen Kuren, sondern ebenso wegen seiner Grobheit berühmt ist, so sagt er ihr erst einige Liebenswürdigkeiten, die daheim den Doktor Meyer ein für allemal aus dem Hause verbannen würden, und als sie klagt, daß es sich gar nicht bessern wolle, erklärt er ihr rund heraus, sie solle nicht zuviel verlangen, der Arzt sei kein Wunderthäter, und wenn alle Patienten wieder genesen wollten, würde kein Mensch mehr auf Erden sterben. Bei ihr stehe viel auf dem Spiel, sie sei lungenkrank und möge ja gewissenhaft ausführen, was man ihr anrathe. „Trinken Sie viel Milch und essen Sie viel Butter! Schlafen Sie in dem größten Raume, den Ihre Häuslichkeit bietet!“ u. s. w. Es folgt Stück für Stück Doktor Meyers Verordnung. Dann verschreibt der Herr noch etwas. „Noch möchte ich Ihnen rathen, bei offenen Fenstern zu schlafen!“

Tantchen läßt das Rezept sofort machen. Du liebe Zeit, das Medikament ist ihr schon vorgestellt: es sind Doktor Meyers Pillen.

Zu Hause berichtet sie dem Doktor Meyer: „Der Professor hat ganz dasselbe verordnet wie Sie!“

„So – so! Na, jetzt thun Sie’s natürlich?“ meint lachend der junge Arzt. „Ja, die Aerzte sind schreckliche Menschen, Frau Schulze, vor gar nichts haben sie Respekt, nicht einmal vor dem Salon!“ Mit einem belustigten Gesicht empfiehlt er sich.

Tantchen befolgt jetzt gewissenhaft, was der Professor gerathen hat, und später ebenso gewissenhaft, was Dokor Meyer räth. „Ich lobe mir meinen Hausarzt, der meine Natur kennt!“ Tantchen ist kuriert. –

Als Tantchen nach Jahren stirbt, kommt mit der übrigen Verwandtschaft auch der Neffe zum Begräbniß, der es immer so gut mit ihr gemeint hat. Er grüßt den Doktor Meyer ziemlich steif. „Tantchen könnte heute noch leben!“ versichert er nach dem Begräbniß den gläubig aufhorchenden Verwandten, „aber ihr war nicht zu helfen! Sie hatte ja nie einen ordentlichen Arzt. Erst den alten Müller mit seinem Senfspiritus – dessen Mittel hätte bei uns kein Kind mehr eingenommen – und dann gar diesen jungen Menschen! Der hat doch nur seine Experimente mit ihr gemacht!“ – –

Armer Hausarzt!




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Eine Fahrt um die Braut.

Erzählung aus Helgolands Vergangenheit von Helene Pichler.

     (Schluß.)

Tiefe Nacht umgab den jungen Fischer, der, nur mit dem groben Schifferhemd und der nassen Leinenhose bekleidet, den schweren Postsack auf dem Rücken tragend, über die furchtbare Oede des Watts wanderte. Er fühlte nicht, wie scharfe Muscheln seine nackten Füße blutig schnitten; er merkte es kaum, wenn er an einer weichen Stelle fast bis zu den Knieen einsank. Das Gefühl schien geschwunden, dagegen waren Gehör und Gesicht an Schärfe verdoppelt. Deutlich unterschied sein Auge die Grenzlinie des von schwarzen jagenden Wolken umsäumten Horizontes und des schäumenden Meeres, sowie die gleich einem flachen Postament im wogenden Element sich hinstreckende Sandinsel. Vor allem aber erkannte er das wie ein gähnendes Grab sich dunkel ausdehnende Watt. So lange Lars den weichen muddigen Grund unter sich hatte, strebte er mit hastender Eile weiter. Nur nicht versinken, nicht ersticken in trügerischem Meeresboden! Gesches helles Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, winkte ihm und lächelte mit ernstem Munde: Vorwärts! Vorwärts!

Das Werk mußte ja gethan sein, ehe die Fluth zurückkehrte; darum durfte Lars seine Schnelligkeit auch kaum mindern, als er den sandigen Inselstrand erreicht hatte. Nur einen Augenblick stand er athemschöpfend stille, um sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern. Dann schritt er weiter, sich stets an den feuchten Saum der Insel haltend, um nöthigenfalls bei einer Verfolgung gleich wieder in das Watt zurückkehren zu können.

Zehn Minuten glaubte Lars gewandert zu sein, als vor ihm ein Lichtfünkchen aufleuchtete und gleich danach die dunklen Umrisse einer Hütte erkennbar wurden. Nun fühlte er sich sicher, mußte das doch jedenfalls die Wohnung des braven Neuwerker Fischers sein, der sich in grimmigem Trotz gegen das aufgezwungene französische Joch hatte bereit finden lassen, den heimlichen Austausch der englischen Post zu besorgen. Kein anderer Platz auf ganz Neuwerk hätte sich auch besser dazu eignen können, denn die Hütte lag außerhalb des Deiches dicht am Watt, völlig einsam auf dem weiten öden Strande.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_735.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)