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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Unter einer Gruppe von Apfelbäumen, deren aneinanderstoßende Kronen ein natürliches Schattendach bildeten, stand eine gußeiserne Gartenbank mit niedriger Rücklehne. Auf dieser Bank saß ein weißgekleidetes junges Mädchen, vielmehr, es balancierte auf einer Ecke der Bank wie ein großer weißer Schmetterling, der sich müde geflattert hat und nun für eine Weile hier auszuruhen wünscht. Sie hielt in ihren Händen eine dicke Strähne rother Seide, und vor ihr, etwas niedriger als sie, kauerte auf einem tiefen Rohrsessel ein junger Mann in dunklem Anzug, mit lichtblondem, sorgfältig frisiertem Haar, – mehr war nicht von ihm zu sehen, da er sein Gesicht dem weißgekleideten Mädchen zugewandt hatte und dem Wasser den Rücken zukehrte. Jetzt hob er seine beiden Hände auf, und der Strang rother Seide wanderte von ihr zu ihm hinüber, während sie einen aus Elfenbein geschnitzten Stern aus der Tasche zog und sich dran machte, die Seidenfäden darauf zu wickeln.

Das Mädchen im weißen Kleide war so schön, daß der Fürst einen halblauten Ausruf der Bewunderung ausstieß und sogar seine Gattin ein beifälliges: „Ei, sieh da!“ murmelte. Die völlig unbefangene Art, mit der das wundervolle Geschöpf dicht am Ufer der von Fahrzeugen aller Art belebten Alster saß und Seide wickelte, als sei es ganz allein, wirkte mit, die ganze Scene noch anziehender zu machen. Der Fürst mußte sich sagen, daß er kaum je in seinem vielbewegten Leben etwas so Vollkommenes gesehen hatte, als Gestalt und Gesicht dieses jungen Wesens.

Aber während er sich innerlich diese Kritik gestattete, hatte er zugleich ein unbehagliches Gefühl, und dies bereitete ihm der junge Mann, der da auf dem niedrigen Rohrstuhl saß und die Seide auf den ausgebreiteten Händen hielt. Dem Fürsten kam dieser blonde, schön gestutzte Kopf so seltsam bekannt vor. Das konnte doch nicht … Unsinn! Die Durchlaucht räusperte sich leicht, um ein beklemmendes Gefühl aus der Kehle fortzubekommen.

„Onkel Sascha!“ sagte in diesem Augenblick ein feines Stimmchen neben ihm. Er blickte sich um und gewahrte sein zweites Söhnchen, den kleinen Radu, und der Knirps wies wichtig mit dem ausgestreckten dicken Aermchen auf den blonden Mann am Ufer und wiederholte mit voller Sicherheit: „Onkel Sascha!“

„Wahrhaftig!“ bemerkte Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin und hob sich ein paar Zoll von ihrem orientalischen Lager empor, um besser sehen zu können.

Fürst Emmerik biß sich auf die Lippe. War es erhört? Hier saß sein einziger Bruder Alexander, der Sproß eines rein fürstlichen Hauses, und leistete vor aller Welt einem unbekannten Mädchen augenscheinlich mit Entzücken einen Dienst, der schon tausendmal seine Rolle als Vermittler vertraulicher Annäherung im Leben junger Damen und Herren gespielt hat und vermuthlich ebenso oft noch spielen wird.

Zum Ueberfluß kehrte jetzt der junge Mann mit einer raschen Kopfwendung den Vorüberfahrenden sein Profil zu, und nun war keine Täuschung mehr möglich, es war wirklich Zoll für Zoll die „kleine Durchlaucht“, die jetzt glücklich lachend zu der jungen Dame in Weiß emporsah, – sie schüttelte gerade ihr Köpfchen und schien ihm eine Strafrede zu halten, vermuthlich hatte er sie zu viel und die Seide zu wenig angesehen, und es waren ein paar Fäden heruntergeglitten.

„Wie heißt sie?“ fragte die Fürstin ihren Gemahl. Der Dampfer war inzwischen vorübergefahren, und die tief niederhängenden Zweige der alten Bäume hatten das reizende Bild den Blicken entzogen.

„Ich weiß nicht!“ murmelte der Fürst verstimmt. „Ich glaubte, es sei längst vorüber. Man hat mir ihren Namen einmal vor längerer Zeit genannt, ich habe ihn jedoch vergessen. Aber ich werde Sascha den Standpunkt klar machen! Ich möchte nur wissen, was er sich eigentlich denkt!“ (Fortsetzung folgt.)     




Trauerklänge aus Schwaben.

Im Herzen des Schwabenlandes, tief eingebettet in die mächtigen Forsten des Schönbuchs, liegt, nicht gar weit entfernt von der Musenstadt Tübingen, ein alter Klosterbau, die ehemalige Cistercienserabtei Bebenhausen. Längst sind freilich die Mönche verschwunden, und in den Hallen von klassisch schöner Gothik hatte der Herrscher des Landes, König Karl I., sich heimisch gemacht, um hier fernab vom rauschenden Weltgetriebe köstliche Tage der Ruhe zu verbringen oder auch eine fröhliche Jagdgesellschaft um sich zu versammeln. Auch dieses Jahr hatten die schönen Herbsttage den König nach jenem stillen Waldsitz eingeladen, auch dieses Jahr wieder umgab ihn das idyllische Thal mit seinem würzigen Duft und seinem erquickenden Frieden – aber von der Seele dessen, der sich in seinen Schutz geflüchtet, vermochte aller Waldeszauber die schwarzen Schatten der Sorge nicht mehr zu bannen, und aus dem geheimnißvollen Flüstern der uralten Buchenhaine klangen die rauschenden Fittiche des Todesengels!

Als ein schwer kranker Mann mußte König Karl am 3. Oktober das traute Thal verlassen, um auf den Rath seiner Aerzte in seine Residenz Stuttgart zurückzukehren. Ein traurig Scheiden – auf Nimmerwiederkehr!

Und nun ein paar lange, lange Tage des Bangens, des Hoffens – und des Verzagens!

Als am Morgen des 6. Oktober das Tagesgestirn in siegreichem Glanze emporstieg über Stuttgarts freundlichen Höhenkranz, da huben auf einmal von allen Thürmen die Glocken zu läuten an, und man wußte, was das Läuten bedeute. Nach so vielen Stunden unsäglicher Schmerzen war dem greisen Herrscher der erlösende Tod erschienen – die Glocken verkündeten es seinem trauernden Volke.

Ja, Württemberg trauert um seinen König! Der Tag ist noch nicht gekommen, wo die Geschichte der neuesten Zeit so offen vor unseren Augen liegt, daß jedermann sich ein Urtheil über den persönlichen Antheil des Herrschers bilden könnte, welcher in den letzten siebenundzwanzig Jahren die württembergische Krone getragen hat. Was aber König Karl als Mensch gewesen ist, das weiß jeder; die schlichte Einfachheit seines Auftretens, die sichere Zuverlässigkeit und vornehme Milde seines Charakters, die Großmuth und Güte seines Herzens, der rege Sinn für die idealen Güter des Lebens, für Bildung, Kunst und Wissenschaft, das alles sind Züge, die, früh in ihm erkannt und nie vermißt, sich unauslöschlich seinem Volke eingeprägt haben, Züge, die mit dem Bilde König Karls, so wie es in den Herzen seiner Unterthanen fortleben wird, unzertrennlich verknüpft sind.

Aber auch außerhalb der schwarz-rothen Grenzpfähle hat der Tod König Karls schmerzlichen Widerhall geweckt. Mit seltener Einmüthigkeit hat die deutsche Presse aller Parteischattierungen dem Heimgegangenen Nachrufe voll ehrender Anerkennung gewidmet. Denn auch da, wo man die Vorzüge seiner Persönlichkeit nicht unmittelbar vor Augen hatte, wußte man doch die Eigenschaften zu schätzen, die dem König Karl die Verehrung seines Volkes sicherten.

Es ist ja heute in unserem deutschen Vaterlande das Gefühl der Stammesgemeinschaft glücklicher Weise so hoch entwickelt, daß alle Glieder unseres vielverzweigten Volksganzen sich solidarisch fühlen, daß des einen Freude auch des andern Lust und des einen Trauer auch des andern Schmerz ist. Und nicht bloß das: man hat in König Karl auch immer einen von denjenigen deutschen Bundesfürsten gesehen, welche unter opfervoller Selbstbeschränkung den Boden geebnet haben, auf welchem ein solches Solidaritätsgefühl sich herausbilden konnte, man ist sich stets bewußt geblieben, daß dieses Verdienst um so schwerer wiegt, je höher der Fürst stand, der es sich erworben, je bedeutsamer die selbständige Macht war, die er vertrat. Von den Königen, die vor nunmehr bald einundzwanzig Jahren an der Gründung des Deutschen Reiches mitgewirkt haben, war König Karl der letzte – auch ein Gesichtspunkt, der seinen Tod über die Bedeutung eines bloßen Thronwechsels hinaushebt.

Und nun haben sie auch ihn bestattet zur ewigen Ruhe wie vor ihm so manchen gekrönten Mitarbeiter an jenem großen Werke, bestattet pomphafter vielleicht, als in seinem bescheidenen Sinne gelegen hatte. Es war sein Wunsch gewesen, daß seine Beisetzung ohne die Theilnahme auswärtiger Fürstlichkeiten oder ihrer Vertreter stattfinde. Doch noch ehe dieser Wunsch zum Ausdruck gelangte, trafen die Anmeldungen befreundeter Fürsten ein, denen es ein inniges Bedürfniß war, ihre Theilnahme durch persönliches Erscheinen bei der Leichenfeier oder durch Absendung hervorragender Vertreter zu bezeugen. So kamen sie denn, der Kaiser Wilhelm II.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_748.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2023)