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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Aus vormärzlicher Zeit.

Von Rudolf von Gottschall.

Von der Wiege des preußischen Liberalismus, von Königsberg, dessen Leben und Treiben und hervorragende Persönlichkeiten in der vormärzlichen Zeit ich in diesen Blättern bereits früher geschildert habe[1], war ich als junger verbannter Student 1843 nach meiner Vaterstadt Breslau gekommen, in der Hoffnung, dort wieder zur Fortsetzung meiner Studien an der Universität zugelassen zu werden – lag doch eine Eingabe von mir bei dem Kultusminister Eichhorn in Berlin, in welcher ich um diese Bewilligung nachgesucht hatte.

In Breslau fand ich dieselbe Gährung der Geister wie in Königsberg – man kann sich heutigen Tags kaum einen Begriff mehr machen von der Macht der damaligen Zeitströmung, die alle mit sich fortriß, welche Begeisterung für eine schönere Zukunft hegten. Es gab damals nur zwei Parteien – die eine, welche das Bestehende um jeden Preis zu schützen, die andere, welche dem Fortschritt im Staatsleben Bahn zu brechen und kampfesmuthig zu erreichen suchte, was gegenwärtig längst erreicht ist, eine Reichsverfassung und Preßfreiheit, und als letztes goldenes Ziel – ein einiges Deutschland. Jetzt, wo die Parteien sich um bestimmte Interessen scharen und ihre Programme in allen einzelnen Punkten sorgfältig ausgearbeitet haben, kann man sich schwer in eine Zeit zurückdenken, in welcher soviele unbestimmte Wünsche und Träume die Gemüther erfüllten und ein ahnungsvoller Vorfrühling, die politische und nationale Blüthe ankündigend, in den Lüften lag.

Ich war in Breslau bei einer befreundeten Familie im Packhof auf dem Bürgerwerder abgestiegen, studierte dort weniger die Pandekten als Vischers „Aesthetik“ und dichtete mein Drama „Robespierre“, welches später schon durch seinen Titel dem damaligen Polizeipräsidenten, dem wohlmeinenden Kurator der Universität, einigen Schreck einjagte. Ich erhielt zwar die Erlaubniß, die Vorlesungen zu besuchen, doch nicht als immatrikulierter Student. Ich schloß mich an die damaligen Burschenschafter, die Raczeks, an, konnte indeß nicht wirkliches Mitglied der Verbindung werden, da ich der Alma mater nicht offiziell zugehörte: doch meine Gedichte waren dort bekannt und man sah mich gern im Kreise der munteren Zecher. Den burschenschaftlichen Ueberlieferungen getreu hielten auch die Raczeks die Fahne der politischen und geistigen Freiheit hoch, eigene Interessen aufzuopfern gern bereit. So wurde in ihrer Mitte eine Eingabe an das Ministerium ausgearbeitet, in welcher die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit verlangt wurde – unter welcher man doch sehr schöne Vorrechte studentischer Freiheit besaß.

In Breslan spukte indeß schon damals der Geist der späteren Sozialdemokratie. Es gab, allerdings nicht bei den Studenten, aber in gewissen Kreisen der Gesellschaft, Anhänger Proudhons und anderer französischer Schriftsteller, und diese betrachteten achselzuckend die kurzsichtigen Tagespolitiker, welche mit der Lösung von Verfassungsfragen die Menschheit weiterzubringen hofften. Ein französischer Sprachlehrer war die Seele dieser Kreise und das Orakel derselben; doch ahnten die Gleichgesinnten noch nicht, daß ein künftiger berühmter Führer der Partei, die aus ihnen sich später bilden sollte, bereits in der Oderstadt verweilte.

Es war im Kießlingschen Keller, wo ich die Bekanntschaft eines sehr jungen Studenten machte, der sich eines großen Ansehens bei den Kommilitonen erfreute. Man betrachtete ihn als eine Art von Wunderkind, denn er kannte die Werke eines Philosophen fast auswendig, welcher für die Mehrzahl der Genossen etwas Fremdartiges hatte, zu dessen Offenbarungen ihnen der Schlüssel fehlte; er konnte die Aussprüche Hegels mit Angabe der Bände und Seiten citieren, eine vertraute Kenntniß, durch die er später in Berlin selbst auf einen Alexander von Humboldt Eindruck machte. Dabei floß ihm die Rede glatt und geläufig von den Lippen; die schwierigsten Fragen schien er gleichsam im Handumdrehen zu lösen; das Geklapper der Bierseidel, die lärmende Umgebung vermochte nicht den Fluß seiner Weisheit zu hemmen. Erhob sich aber irgend ein Widerspruch, so begegnete dieser nur dem Hohn achselzuckender Ueberlegenheit; denn dieser achtzehnjährige junge Mann erhob Anspruch auf Unfehlbarkeit, die ihm auch von einer großen Zahl der Studiengenossen bereitwillig zugestanden wurde. Seine äußere Erscheinung hatte nichts vom Stubenhocker, der beim Oel der Nachtlampe, um einen Bürgerschen Ausdruck zu gebrauchen, „zusammenhutzelt“; er war schlank gewachsen, hatte ein feingeschnittenes Profil, eine Denkerstirn, eine griechische Nase, ein ausdrucksvolles Mienenspiel, bei welchem besonders die Lippen, die leicht Verachtung und Hohn ausdrückten, mitzuwirken pflegten; das Gepräge israelitischer Herkunft war unverkennbar, trat aber doch nicht aufdringlich hervor. Bei einem langen Gespräch über Hegel, der damals auch mein Philosoph war, fanden wir viele Berührungspunkte. In Kießlings Keller waren feierliche Vorstellungen nicht Mode; ich fragte also hinterdrein nach dem Namen des sprachgewandten, geistig geschulten Studenten und erfuhr, daß er eines jüdischen Kaufmanns Sohn sei, hinter der Börse wohne und Ferdinand Lassalle heiße.

Wir traten uns seitdem näher. Die Burschenschaft wünschte, daß wir eine im Manuskript erscheinende Zeitschrift herausgeben sollten, für welche Lassalle die philosophischen Artikel und ich die Gedichte zu verfassen hätte, doch über die ersten Anfänge kam das Unternehmen nicht viel hinaus. – Wir beide waren Freunde des königlichen Schachs und spielten oft zusammen; während wir aber die leichte Kavallerie der Springer über die Felder hüpfen und die schwere Artillerie der Thürme aufmarschieren ließen, fanden wir noch Zeit genug zu einem guten und nach unserer Ansicht schwerwiegenden Wort über die deutschen Denker und Dichter und über das, was unserer Zeit und unserem Volke noththue.

Vor kurzem war ein schlesischer Dichter gestorben, dessen Worte ebenfalls eine mächtige Triebkraft in der damaligen Bewegung bildeten, Friedrich von Sallet. Sein „Laienevangelium“ hatte Aufsehen erregt; es hatte einen männlicheren Ton als Leopold Schefers „Laienbrevier“ und predigte, in kühner Umschreibung der biblischen Texte, eine Sittlichkeit, die in freier Gesinnung und muthiger Thatkraft bestand. Sallet war früher Offizier gewesen, hatte seinen Abschied genommen, sich mit einem Fräulein von Burgsdorf aus Reichau im Nimptscher Kreise, der späteren Gattin des Dr. Theodor Paur, vermählt und längere Zeit in Breslau gelebt; er hatte kaum das einunddreißigste Jahr überschritten, als ihn der Tod dahinraffte. Ich kannte ihn nicht, doch hörte ich viel von ihm erzählen; für seine Gedichte war ich begeistert und sehr zog mich auch sein Bild an, welches damals in Breslau fast überall zur Schau gestellt war: eine Art von Christuskopf mit langem Gelock, zu welchem man sich keinen rothen Lieutenantskragen hinzudenken konnte, selbst wenn man Phantasie genug besaß, die langen Locken in Gedanken abzuschneiden. Etwas Soldatisches konnte nie im Wesen des jungen Offiziers gelegen haben, der ja auch für diesen Beruf wenig paßte und schon während seiner Dienstzeit wegen anstößiger schriftstellerischer Leistungen zur Festungshaft verurtheilt worden war. Schmächtig und kränklich sah er auf diesem Bilde aus, während seine Gedichte kerngesund waren, ohne jeden krankhaften Schmerzenszug, ja selbst ohne die Schwermuth der schönen Seelen. Sallet hatte eine begeisterte Gemeinde um sich versammelt, meistens junge Gelehrte und die Redakteure der Hauptzeitungen; ich schloß mich diesem Kreise an und wir zusammen gaben das Werk „Leben und Wirken Friedrichs von Sallet“ heraus, zu welchem ich das einleitende Gedicht beisteuerte.

Von diesen geistig regsamen Männern, die natürlich alle zu der Fahne des Liberalismus geschworen hatten, ging auch die Einladung zu einer Abendgesellschaft aus, bei welcher ich die Bekanntschaft eines später vielgenannten schlesischen Parteiführers machen sollte. Wir fanden uns in einem Saale des Hotels zum „Weißen Adler“ in der Ohlauer Straße zusammen. Es galt eine Art von politischer Besprechung, und es waren auch angesehene Bürger Breslaus anwesend; man erwartete einen Vorkämpfer des schlesischen Adels, welcher die gleiche Gesinnung wie wir vertrat. Es währte nicht lange, so trat der Erwartete in den Saal, eine hohe schlanke Gestalt mit Feueraugen und einem lang herabwallenden dunklen Bart, mit ihm ein etwas kleinerer Begleiter. Es war


  1. Im Jahrgang 1871, Nummer 2 und 13.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_780.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)