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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Weltflüchtig.
Roman von Rudolf Elcho.
(5. Fortsetzung.)


12.

Lange behauptete der Winter seine eisige Herrschaft. Als Frühlingsstürme endlich die Eisdecke zertrümmert und die Schollen weit hinaus ins wogende Meer getrieben hatten, mußte Ewald wieder auf die See; aber Bettina fühlte sich in seiner Abwesenheit nicht mehr einsam. Der Garten prangte bald im Blüthenschnee der jungen Obstbäume, Schneeglöckchen und Veilchen dufteten von den Saumbeeten und Rainen. Nun beim Anblick des sonnigen Himmels und des blauen Meeres wurde ihr das Herz wieder weit, und aus dem leisen Rauschen der Brandung vernahm sie helle Stimmen des Glücks ...

Als Ewald zu Anfang des Juli von einer seiner Lotsenfahrten zurückkehrte, hielt man ihm ein kleines Wesen als sein Kind entgegen, Bettina aber lag totenbleich und bewußtlos in den Kissen. Bald stellte sich ein heftiges Fieber bei ihr ein, das von Stunde zu Stunde einen gefährlicheren Charakter annahm. Trotz der Abneigung seiner Mutter, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, ließ sich Ewald nun nicht länger halten und segelte über die Bucht nach der Kreisstadt, um Hilfe zu holen. Als er endlich mit dem Doktor, einem alten erfahrenen Praktikus, zurückkehrte, da fand dieser fast eine Sterbende.

Mehrere Wochen rang Bettina mit dem Tode, bevor es dem wackeren Arzte gelang, die Gefahr zu beseitigen. In dieser schweren Zeit hatte sie nur selten und nur während einiger Minuten die Besinnung erlangt. Nachdem die furchtbare Krisis vorüber war, galt ihre erste Frage an den Doktor dem Befinden ihres Kindes, und sie erfuhr, daß auch dieses in schwerer Lebensgefahr geschwebt habe. Zugleich dämmerte eine unklare Erinnerung, ein verschwommenes Bild in ihr auf. Einmal mußte sich ihr Bewußtsein für ein paar Augenblicke aus den Fieberschauern emporgerungen haben. Sie erinnerte sich, daß ein altmodisch gekleideter Mann an einem Tischchen neben ihrem Bette gesessen und beim Lichte der Lampe einen Papierbogen durchgesehen hatte. Neben dem Fremden standen die Monks. Ewald verlangte eine Unterschrift von ihr, sie wußte nicht mehr, zu welchem Zwecke, aber sie wußte noch, daß sie große Anstrengungen gemacht hatte, um den Kopf zu erheben. Ewald stützte sie mit dem linken Arme und leitete ihr die Hand beim Schreiben. Als sie wieder in die Kissen zurückgesunken war, hatten die alten Monks ein „Gott sei Dank!“ und Ewald einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Zu welchem Ende hatte ihre Umgebung so große Anstrengungen gemacht, um jene Unterschrift zu erhalten? Sie fragte den Arzt, mit dem sie in diesem Augenblick allein war, ob er ihr den Schlüssel zu dem Vorgang geben könne, der aber meinte, es sei fraglich, ob sie das erlebt oder in ihren wilden Fieberphantasien nur geträumt habe, und sie solle sich jetzt nicht mit solchen Gedanken beschweren.

Es war am Abend eines heißen Augusttages, als der Arzt die Genesende aus der dumpfen Krankenstube auf die Veranda tragen ließ. Bettina hatte ihre weißen magern Hände über die Stirn ihres Kindes gleiten lassen und es dann mit der Amme ins Haus gesandt. Eine Stunde später, mit Sonnenuntergang, kam Ewald im Boote dahergesegelt. Er war mit den Fischern auf dem Flunderfang gewesen und schien erfreut, bei der Rückkehr Bettina wieder im Freien zu sehen. Lachend küßte er sie auf die Stirn und sagte. „Du bist noch höllisch blaß, lieber Schatz, aber an der Luft werden sich die Backen bald wieder färben.“

Er ließ sich das Abendbrot auf die Veranda bringen, und da er einen guten Fang gethan hatte, so leerte er ein Glas Wein auf Bettinas Wohl. Während des Essens erzählte er im breiten Tone und langsamen Tempo der Küstenbewohner von den Sorgen, Mühen und Unkosten, welche die Krankheit gebracht habe; aber das sei nun verwunden, versicherte er, sobald seine Betty wieder auf dem Posten wäre, müsse alles ins gute gewohnte Geleise kommen.

Die Genesende hatte das Gefühl, als sei sie aus Todesnacht gerettet worden, um mit Ewald und dem Kinde ein neues Leben zu beginnen. Doch die frische Luft, die heitere Sommerpracht des Abends, der Duft, welcher dem Garten entströmte – das alles wirkte so stark auf ihre Sinne, daß sie sich in die Kissen zurücklehnen mußte, weil ein Schwindel sie überkam. Eine Weile saß sie mit geschlossenen Augen da, und plötzlich glitt wie ein flackerndes Licht das Bild jener nächtlichen Scene an ihr vorüber, von der sie nicht wußte, ob sie erträumt oder erlebt sei.

„Du hast mich während meiner Krankheit ein Schriftstück unterzeichnen lassen?“ sagte Bettina in halb zweifelndem Tone. „War die Angelegenheit so dringend? Was enthielt das Dokument?“

Ewald gerieth in Verlegenheit, und bevor er die Frage beantwortete, schenkte er sich noch ein Glas Wein ein. „Ja, siehst Du, Schatz, es stand höllisch schlimm um Dich an dem Tage ... Da meinte Mudding denn ... und Vadding auch ... man müsse sich doch ’mal bei einem Advokaten erkundigen, wie es um die Erbschaft stehe. Das that ich denn auch, und der Advokat erklärte mir, nach dem Erbrecht, das hier zu Lande gilt, gehe Dein Vermögen im Fall Deines Ablebens auf das Kind und auf mich uber. Es sei aber auch möglich, daß Du bereits ein Testament gemacht und bei Freunden oder bei Deinem Bankier hinterlegt habest und daß ein Vermächtniß zu gunsten Deiner Schwester oder einer Freundin darin enthalten sei. In dem Falle lege sich das Gericht in die Sache und ich könnte viel Schererei haben, wenn nicht eine neue letztwillige Verfügung von Deiner Seite die erste aufhebe. Auch für den Fall, daß Du leben bliebest – so meinte der Advokat – sei eine Vermögensregelung immer gut. Na, so hat er denn ein Dokument aufgesetzt – der Advokat, und wir ließen Dich unterschreiben, das Kind – Du verstehst doch – das Kind durfte nicht benachteiligt werden.“

Er verstummte unter Bettinas forschenden Blicken; es war ihm, als schaue sie auf den Grund seiner Seele. In ihr aber regte sich das Gefühl der Bitterkeit bei der Erkenntniß, daß Ewald in der Stunde, da er sein Weib zu verlieren glaubte, habgierig die Hände nach ihrem Erbe ausgestreckt hatte. Eine Weile saß sie wie betäubt da und starrte mit brennenden Augen in die Purpurgluthen des Sonnenballs, dann erwiderte sie seufzend: „Ja, ich verstehe alles. Wenn ich indessen meiner Schwester oder einer Freundin einen Theil meines Nachlasses hätte zuwenden wollen, so wäre es Deine Pflicht gewesen, den Willen einer Verstorbenen zu ehren. Allein ich hatte diese Absicht nicht, und das Geld, das Du dem Advokaten zahltest, ist weggeworfen.“

Ewald rückte unruhig auf dem Sitze hin und her und entfernte sich dann unter dem Vorwande, daß er nach den Netzen sehen müsse. Bettina sah ihm nach und murmelte: „Mir ahnt – er und ich, wir werden immer in verschiedenen Welten leben.“

*      *      *

Der Spätsommer wurde so mild, das Bettina den ganzen Tag mit dem Kinde im Garten sein konnte. In der würzigen Luft erholte sich die junge Mutter rasch von der schweren Krankheit, und auch das kleine Mädchen an ihrer Seite gedieh. Mit der Genesung aber vollzog sich leise eine Wandlung bei Bettina, welche ihren Gatten mehr beunruhigte als erfreute. Der Klang ihrer Stimme war tiefer, ihre Sprache ruhiger und bestimmter als zuvor; eine edle Harmonie sprach aus ihren Bewegungen. Sie begegnete dem Gatten mit Freundlichkeit, jedoch auch mit jener Zurückhaltung, die jeden innigeren Verkehr ausschließt. Nie wieder strahlte sie Ewald mit ihren blauen Augen an, wie sie das als Braut gethan hatte. Dem Kinde aber wandte sie alle Zärtlichkeit ihres warmfühlenden Herzens zu. Wenn sie die Kleine durch den Garten oder die schattige Wolfsschlucht trug, lag der milde Schein der Freude auf ihrem Gesicht, dann sang sie mit weicher melodischer Stimme Kinderlieder, dann konnte sie lachen, daß man glaubte, in ihr wohne ein volles Glück.

Ewald beobachtete sie einst heimlich, als sie sich mit dem Kinde allein glaubte, und vor ihrer Mutterseligkeit erwachte in ihm das Gefühl der Eifersucht. Hinter dem Busche hervortretend, der ihn verdeckt hatte, schritt er auf das Kind zu, betrachtete es eine Weile und sagte dann kopfschüttelnd: „Wie kann man sich nur um eines solch kleinen zappelnden Geschöpfes willen so närrisch anstellen! Das ist doch noch kein Mensch!“

Bettina nahm das Mädchen in ihre Arme und entgegnete:

„Das begreifst Du nicht? Das ist mir ein neuer Beweis, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_166.jpg&oldid=- (Version vom 25.12.2019)