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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Halbheft 7.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Weltflüchtig.

Roman von Rudolf Elcho.
(6. Fortsetzung.)

Zum Unglück tauchte in dem Augenblick, in welchem Bettinas Gestalt verschwand, der Mond in eine Wolkenschicht hinein und völliges Dunkel umhüllte das Höwt. Weiter zu schreiten wäre für Rott Tollkühnheit gewesen, denn jeder Schritt konnte auch ihn in den Abgrund stürzen. Es blieb ihm nichts übrig, als laut ihren Namen zu rufen. Da – aus der Tiefe kam eine deutliche Antwort:

„Sind Sie es, Herr Rott, der ruft?“

„Ja, aber um Gotteswillen, wo befinden Sie sich?“

„Ich hänge über der Brandung. Schreiten Sie ja nicht weiter, Sie stehen am Abgrund!“

Kaum hatte Bettina geendet, so zitterte ein furchtbares Erschrecken durch Rotts Herz. Der Mond war wieder zum Vorschein gekommen und ließ ihn mit einem Male die ganze Gefahr für Bettina erkennen. Diese hing senkrecht über der leise rauschenden Brandung an einer Baumwurzel, die vom Bergrand etwa zwanzig Fuß tief abgerutscht und in einer Wasserrinne stecken geblieben war; diese Stütze konnte jeden Augenblick nachgeben. Als er endlich die Sprache wiederfand, rief er Bettina verzweifelt zu: „Sie schweben in einer furchtbaren Gefahr — und ich bin rathlos — können Sie sich halten?“

„So lange die eingeklemmte Baumwurzel festhält, bin ich sicher. Sie könnten mich retten, wenn Sie eines der langen Seile, mit welchen die in der Mulde weidenden Schafe an den Pflock befestigt sind, herbeischaffen und mir zuwerfen. Ganz in unserer Nähe blökt eins der Thiere. Gehen Sie ruhig zu Werke — ich fürchte den Tod nicht.“

In rasendem Laufe sprang Rott zu der Stelle, wo er mehrere Schafe an langen Seilen angebunden sah, die sie am Entlaufen verhinderten. Er riß den Pflock aus der Erde, an den eines der Schafe gefesselt war, und zog das widerstrebende Thier an sich, um ihm das Seil abzunehmen. Dann eilte er mit der Beute zurück. Ihm schien es, als seien Stunden vergangen, seit er sich von Bettina entfernt hatte.

„Sind Sie noch da?“ rief er von der Höhe aus und vernahm ein lautes Ja. Hastig warf er das mit der Schlinge versehene Ende des Seils Bettina zu, mit der Anweisung, sie möge die Schlinge über die Schultern zu bringen suchen damit das Seil unter ihren Armen einen Halt gewinne. Das auszuführen, war für Bettina fast unmöglich, denn sie mußte sich mit einer Hand festklammern, um nicht abzustürzen. Da sie jedoch ruhig und stark war, so gelang es ihr endlich, die Schlinge wenigstens über den Kopf und unter die linke Schulter zu bekommen, mit der rechten Hand umklammerte sie das Seil.

Rott, welcher in seiner Heimath Tirol wiederholt beobachtet hatte, wie Abgestürzte aus Felsklüften heraufgezogen wurden, prüfte

Eine Fahrt mit dem Eisboot.
Nach einer Photographie von Otto Koch in Husum.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_197.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2021)